Seelsorger:Geistliche Urlaubsvertretung

Seelsorger: So sieht ein Urlaubspfarrer aus: Martin Stählin vor der evangelischen Kirche in Kochel. Früher war er an der Friedenskirche in Dachau tätig.

So sieht ein Urlaubspfarrer aus: Martin Stählin vor der evangelischen Kirche in Kochel. Früher war er an der Friedenskirche in Dachau tätig.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Eigentlich ist der frühere Dachauer Pfarrer Martin Stählin im Ruhestand. Doch Ruhe liegt ihm nicht, deshalb springt er für Kollegen in der Ferienzeit ein

Von Felicitas Amler, Dachau/Kochel am See

Als junger Studentenpfarrer ist Martin Stählin mit Sandwich-Plakaten durch München gelaufen. Er hat gegen die Apartheid in Südafrika protestiert und Bustouren nach Mutlangen organisiert, wo die Pershing-II-Raketen stationiert waren. "Es war eine sehr aufregende Zeit damals", sagt er - die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses. "Die Studenten waren dagegen. Und ich war dagegen." Bald vierzig Jahre ist das her, aber an seiner grundsätzlich politischen Haltung hat der heute 69 Jahre alte evangelische Pfarrer im Ruhestand nichts geändert. Sein Grundsatz lautet: "Christ sein, heißt Demokrat sein."

In diesem Sommer ist Stählin, der lange an der Friedenskirche in Dachau tätig war, Urlaubspfarrer der evangelischen Kirche Kochel am See. Während das Pfarrer-Ehepaar Elke und Matthias Binder Ferien macht, hält er die Gottesdienste, samstags auf dem Herzogstand, sonntags in der herrlichen kleinen Jugendstil-Kirche in Kochel oder am Walchensee, und er gestaltet die wöchentlichen Abendkonzerte mit Beiträgen, für die er einen großen Fundus an keineswegs nur biblischen Texten hat.

Vor fünf Jahren, sehr bald nach seiner Pensionierung, ist Stählin in die Urlaubsseelsorge eingestiegen. Eine reizvolle Aufgabe, wie er findet, und eine gute Gelegenheit für ihn, das Voralpenland kennenzulernen. Stählin lebt mit seiner Ehefrau Angelika in Neubiberg, die vier Kinder sind aus dem Haus, und nach seiner aktiven Zeit in verschiedenen Kirchengemeinden in Germering, München und Dachau hat der Pensionist sich allerlei Engagements gesucht. So ist er Zweiter Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft München, wirkt in ökumenischen Ehevorbereitungsseminaren mit und spielt Impro-Theater. Als er in den Ruhestand ging, habe er sich gedacht: "Es muss noch eine andere Welt außerhalb von Kirche geben, und die will ich entdecken."

Kochel ist Stählins sechste Station als Urlaubspfarrer zwischen Chiemsee und Garmisch-Partenkirchen. Es war nicht zuletzt die Jugendstil-Kirche, die ihn dorthin zog: "Diese Kirche, die Akustik, die Menschen - ich gestalte hier gern den Gottesdienst." Im Übrigen genießt er die Landschaft, wandert in den Bergen, freut sich, auch Freunde und Familie gelegentlich herlocken zu können, war - natürlich!" - schon im Trimini und hat bereits zweimal das Franz-Marc-Museum besucht.

Die Architektur des Neubaus dort hoch über dem Kochelsee findet er "hervorragend". Bauten interessieren ihn immer, denn außer Pfarrer wäre Stählin gern Architekt geworden. Als Pfarrer macht er sich viele Gedanken über Glaube und Religion heutzutage. "Für mich gibt's nicht mehr Himmel und Hölle", sagt er mit dem freundlichen Lächeln, das fast all seine Worte begleitet. "Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, sind alle Menschen bei Gott. Alle Menschen, nicht alle Christen." Wenn? Ein Pfarrer, der am Leben nach dem Tod zweifelt? Stählin nickt. Der Zweifel gehöre zum Glauben: "Wir haben alle die Aufklärung nicht nur hinter uns, sondern in uns." Und was sein Gottesbild angeht, da ist er ganz auf der Linie von Dorothee Sölle, der verstorbenen Vertreterin eines "anderen Protestantismus": Nach Auschwitz könne man nur noch sagen, Gott sei barmherzig oder allmächtig. "Aber beides zusammen geht nicht mehr."

Der Himmel als Chiffre kommt immer wieder in den Worten des Pfarrers vor. Wenn er von seinen Kindern spricht, die alle ihren Weg gefunden haben, von seinen eigenen reichen Möglichkeiten, bisher verschont von schwerer Krankheit, dann ruft er es geradezu aus: "Ich fühle mich vom Himmel so beschenkt!" Nicht nur im Voralpenland ist Stählin unterwegs, sondern auch auf dem Wasser. Er ist einer von deutschlandweit etwa 140 katholischen und evangelischen Bordpfarrern. Mal sind es sechs Wochen Kreuzfahrt von Tahiti über die Fidschi-Inseln und Neukaledonien bis nach Melbourne, mal ist es eine Tour durchs Arabische Meer und den Golf von Bengalen. Ökologisch seien Kreuzfahrten natürlich sehr zweifelhaft, sagt er, aber seelsorgerisch doch eine Herausforderung. Und eine Chance: Die Menschen an Bord hätten diesen weiten Horizont vor sich, da lasse es sich gut reflektieren, etwa über die Frage nach Glück, die er gern aufwerfe. Es gehe ihm darum, "die Spiritualität jedes Einzelnen zu beleben". Schließlich hätten alle Menschen in sich "einen großen, weiten Raum".

In Kochel war das Zuhören eines der Themen seiner Predigten; ausgehend von Lukas 10,38-42: "Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu ..." Ganz weltlich liebt der Pfarrer im Ruhestand es aber durchaus, wenn andere ihm zuhören. "Ich steh gern vorn", sagt er, "mich machen Menschen wach, die mir eine Erwartung entgegenbringen. Da bitzelt's immer noch."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: