Süddeutsche Zeitung

Schule und Politik:Demokratie macht Spaß

Schulen im Landkreis widmen sich neben der Wissensvermittlung der Erziehung ihrer Schüler zu mündigen Bürgern - und das führt auch zu einem respektvollen Umgang zwischen Jugendlichen und Pädagogen

Von Maximilian Kiessl

Der Pausenverkauf in der Mittelschule Karlsfeld bietet neuerdings auch Leberkäse aus Putenfleisch und Kuchen an, und seitdem ein Schüler täglich bei der Ausgabe mithilft, bekommen die Mädchen und Jungen der insgesamt 20 Klassen ihr Essen viel schneller. Auch die Mittagspause der Ganztagsschüler ist neu geregelt worden - es geht nun eine Viertelstunde früher als bisher zurück in die Klassenzimmer. Hinter den Änderungen stehen aber nicht, wie zu vermuten wäre, die Lehrer. Die Schüler selbst haben sie angestoßen. Und das ist noch längst nicht alles.

In der Mittelschule in Karlsfeld vollzieht sich ein grundsätzlicher Wandel.

Zusammengefasst könnte man von einer Demokratisierung des Schulalltags sprechen, und das hat dann doch wieder sehr viel mit einem Erwachsenen zu tun - dem Schulleiter Hakan Özcan. Seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren hat er gemeinsam mit dem Lehrerkollegium und in Zusammenarbeit mit dem Kreisjugendring Dachau die demokratische Öffnung der Schule vorangetrieben. "Das ist ein Prozess mit dem Ziel, die demokratische Handlungskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu steigern", sagt Özcan. "Nur wenn sich die Jugendlichen innerhalb der Schule beteiligen und mitreden können, werden sie mündige Bürger und engagieren sich später auch politisch."

Ältere Karlsfelder, deren Schulzeit schon lange zurückliegt, würden staunen, was da so alles geschieht. Zum Beispiel die Schülersprecherwahl: Nicht nur die Klassensprecher, sondern die gesamte Schülerschaft wählt ihre Vertretung in einem Verfahren, das einer politischen Wahl gleicht. Die Kandidaten stellen ihr Programm auf der Schulversammlung vor, und die Schüler entscheiden dann in geheimer Wahl. So hat Stuart Dawood, ein Fünftklässler, den Sprung in das dreiköpfige Gremium geschafft, das an Lehrerkonferenzen teilnimmt und Ideen einbringt. "Die Schüler werden gehört. Das ist ihr Recht", sagt die Religionspädagogin Sabine Mühlich.

Aber sie werden eben nicht nur gehört, sondern haben auch Einfluss. Schülersprecher Farshad Honar hat schon einige Schulwechsel hinter sich: "So viel wie ich hier mitbestimmen darf, konnte ich auf keiner der anderen Schulen, auf denen ich vorher war", stellt er fest. "Mir gefällt, dass man als Schüler hier so viel mitreden darf ", bestätigt Schülersprecherin Natalia Kaltsidou. Doch damit ist die Mitbestimmung noch nicht am Ende: Einmal pro Woche tagen sogenannte Klassenräte, die aus Vorschlägen und Beschwerden von Schülern Anträge ausarbeiten. Diese werden dann von den Klassensprechern, die einmal jährlich in einem Seminar auf dem Petersberg geschult werden, der Schulleitung überreicht. Es geht nicht nur um Regeln etwa für den Pausenverkauf - doch auch an solchen alltäglichen Fragen lassen sich "Teilnahme und Verantwortung" erlernen. "Seit wir mit unserem Prozess begonnen haben, gibt es weniger Konflikte und Streit, die Schüler fühlen sich gehört und das wirkt sich auch positiv auf die Sozialkompetenz aus", bilanziert Schulleiter Özcan die bisherigen Erfolge.

Im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen wird rasch klar, dass sie sich mit ihrer Schule identifizieren, von Unlust und Desinteresse ist nichts zu spüren - wie auch, Demokratie macht Spaß, wenn man sie leben kann. "Es gibt tolle Rahmenbedingungen und einen sehr offenen Schulleiter", sagt Ludwig Gasteiger, Geschäftsführer des Kreisjugendringes (KJR) in Dachau. Seine Organisation unterstützt die Mittelschule Karlsfeld im Rahmen des Projekts "demokratische Schule" seit dem Schuljahr 2017/18. Die Mittelschule ist bisher die einzige im Landkreis, die daran teilnimmt. Doch Gasteiger kann sich sehr gut vorstellen, das Ganze als großes Modellprojekt auszuweiten.

Gasteiger hofft, wie er sagt, dass die Schulen im Landkreis insgesamt noch mehr für die Demokratieerziehung und den respektvollen Umgang der Schüler untereinander tun. Schulen hätten nun mal eine komplexe Aufgabe, die sich nicht in der Wissensvermittlung erschöpfen sollte. "Es gibt eben auch die politische Funktion der Schulen. Die Schüler sollten möglichst praktisch zu Bürgern mit Kenntnis über das politische System erzogen werden, für die Demokratie ein wichtiger Wert ist", so der KJR-Geschäftsführer. Die Generation der Zukunft solle zu einem Miteinander in Vielfalt erzogen werden. "Wenn die politischen und sozialen Funktionen der Schule versagen, hat man ein Problem, da muss noch mehr passieren", meint Gasteiger. Er hat die wenig schöne Realität an deutschen Schulen im Blick: Zum Beispiel häufen sich seit einigen Jahren schon die Fälle, in denen jüdische Schüler gemobbt werden. Überhaupt wird heute auf den Schulhöfen "Jude" als Schimpfwort verwendet. Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle fordert deshalb eine Überarbeitung der Lehrpläne und eine entsprechende Ausbildung der Lehrkräfte. Schule muss die Jugendlichen gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wappnen - Politik oder Stammtisch bieten den Jugendlichen nicht immer ein Vorbild.

Wie steht es um die Demokratieerziehung an den Schulen im Landkreis Dachau? "Man kann nie genug zu Demokratie erzogen werden", findet Anita Aumüller-Menz, Leiterin der Theresia-Gerhardinger-Realschule in Weichs. "Die Schule ist stark in der Verantwortung, die Vorteile der Demokratie aufzuzeigen und die Nachteile, wenn wir keine hätten." Ihre Schule nimmt seit 2013 an dem Projekt "Schule ohne Rassismus" teil, dabei wird sie auch vom Kreisjugendring unterstützt. Filme, Theaterstücke von Schülern zu den Themen Ausgrenzung und Mobbing, Ausstellungen zu Rechtsextremismus, ein Vortrag eines Aussteigers aus der rechtsextremen Szene, ein Planspiel zur Flüchtlingspolitik, Kochen für Flüchtlinge und Fußballspielen mit jungen Geflüchteten und vieles mehr steht auf dem Programm. Die Jugendlichen setzen sich besonders mit dem Thema Rechtsextremismus in der heutigen Zeit auseinander. Das hält Claudia Schmidlehner auch für bitter nötig. Die Leiterin der Fachschaft Geschichte ist verantwortlich für das Programm "Schule ohne Rassismus". "Es gibt sehr viele Rechte im Landkreis Dachau. Ich habe persönlich erlebt, wie sie in der Gedenkstätte aufgetreten sind vor einigen Jahren, und niemand sie damals daran gehindert hat. Man muss rechtsextreme Gruppierungen beobachten, doch das war lange Zeit nicht der Fall."

Umso wichtiger sei es, die Kinder und Jugendlichen über den Extremismus aufzuklären. Das wird auch mit KJR-Workshops getan. Im laufenden Schuljahr fanden schon zwei statt: "Argumentationstraining gegen Stammtischparolen" für die neunte Jahrgangsstufe und ein Workshop "Hassrede und Fake News im Internet - Erkennen und Intervenieren" für eine zehnte Klasse. Das Programm "Lernort Staatsregierung" bringt den jungen Leuten Politik und Demokratie näher. "Die Schüler müssen sehen können, was gelebte Demokratie bedeutet", findet Aumüller-Menz.

Das Projekt "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" ist im Landkreis durchaus weit verbreitet. Zum Beispiel nehmen das Gymnasium Markt Indersdorf, das Ignaz-Taschner-Gymnasium Dachau, die FOS Karlsfeld und die Berufsschule Dachau teil. Seit März trägt auch die Grund- und Mittelschule Erdweg diesen Titel, und die frühere Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) hat die Patenschaft für die Schule übernommen. "Ich würde sagen wir haben die Notwendigkeit von politischer Bildung und demokratischer Erziehung erkannt", sagt Thomas Höhenleitner, Direktor des Gymnasiums Markt Indersdorf. Seit 2018 ist das Gymnasium Teil des bundesweiten Projekts "Schule ohne Rassismus". Als Beitrag zur politischen Bildung der Schüler finden hier unter anderem Vorträge von Abgeordneten und schulinterne Wahlsimulationen wichtiger politischer Wahlen statt. Zudem nimmt das Gymnasium Markt Indersdorf regelmäßig an dem Programm "Lernort Staatsregierung" teil. Im Rahmen dieser Veranstaltung dürfen Schulklassen entweder ein Ministerium, die Staatskanzlei oder den Landtag besuchen. Dort bekommen die Schüler einen Einblicke in den politischen Alltag.

Ein gutes Beispiel für das durchaus vorhandene Demokratieverständnis der Schüler ist laut Höhenleitner die Protestbewegung "Fridays for Future". "Ich unterstütze "Fridays for Future", aber ich heiße es nicht gut, dass die Demonstrationen während der Schulzeit stattfinden." Das bringe ihn in eine rechtlich und versicherungstechnisch schwierige Lage, erklärt Höhenleitner. Er wolle vermitteln, dass sowohl Bildung als auch politisches Engagement wichtig sind und man beides nicht gegeneinander ausspielen solle.

Im Landkreis also stellt sich die Situation besser dar, als das eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung von Ende 2017 vermuten lassen würde, für die bundesweit mehr als 1200 Lehrer befragt wurden. Das Ergebnis: Gerade einmal vier Prozent aller Lehrkräfte messen der Demokratiebildung eine hohe Bedeutung zu - ein beinahe schockierend niedriger Wert, den der KJR-Geschäftsführer Gasteiger im Blick hat, wenn er auf eine Ausweitung der Demokratieerziehung pocht.

Aber eine Schule muss nicht unbedingt den Titel "Schule ohne Rassismus" tragen. Die Realschule Markt Indersdorf hat ähnlich wie in Karlsfeld ein Schulentwicklungsprogramm gestartet, welches das Demokratieverständnis in den Mittelpunkt rückt. Ziel ist es, eine "Schule mit Courage - Schule der Vielfalt" zu werden. "Es heißt bei uns bewusst nicht Schule ohne Rassismus, da wir ein eigenes, individuelles Programm verfolgen", erklärt Schulleiterin Petra Fuchsbichler. Man wolle das Thema nachhaltig und über einen längeren Zeitraum hinweg ansprechen und das Motto nicht nur als Aushängeschild haben. Anlass für das Programm war laut Fuchsbichler ein konkreter Fall der Verbreitung rechtsextremistischer Zeichen durch einen Schüler Ende vergangenen Schuljahres. "Daraufhin wurde uns vorgehalten, wir würden die Schüler zu wenig aufklären", sagt Fuchsbichler. Das sei bitter, denn die Zeit des Nationalsozialismus werde im Unterricht ausführlich behandelt, so die Direktorin.

An Projekttagen setzen sich die Schüler in Workshops mit Demokratie, Menschenrechten und Extremismus auseinander. Die Demokratieerziehung wird zusätzlich in das bereits bestehende Präventionskonzept eingearbeitet, in dem es um Sexualerziehung, Drogenprävention und Jugendkriminalität geht. Die Themen werden altersgerecht durch Vorträge, in Seminaren oder bei Exkursionen vermittelt. Von nun an sollen auch Erinnerungskultur, Extremismusprävention und Demokratieverständnis eine wichtige Rolle in dem Konzept einnehmen. Darüber hinaus soll eine Schulverfassung ausgearbeitet werden. In Zukunft werden die Kinder und Jugendlichen vermehrt demokratisch mitentscheiden dürfen. "Dadurch, dass die Schüler mitreden können, ist die Identifikation mit der Schule größer", sagt Fuchsbichler. "Es ist wichtig zu vermitteln, dass die Schule nicht nur Lebensraum der Lehrer, sondern auch der Schüler ist."

An Grundschulen gestaltet sich die Vermittlung demokratischer Werte indes aufgrund der deutlich jüngeren Schülerschaft etwas schwieriger als auf den weiterführenden Schulen. Dennoch ist die Demokratieerziehung auch in jungen Jahren ein relevantes Thema. "Es ist auf jeden Fall wichtig, Schüler im Grundschulalter schon zu Demokratie zu erziehen", sagt Andrea Noha, Leiterin der Grundschule Dachau-Ost, schließlich lege man die Grundsteine für das demokratische Verständnis der Schüler in diesem Alter. Durch Klassenräte in einigen Klassen, das Streitschlichterprogramm, Klassensprecherwahlen oder die Schülerzeitung, erhalten die Kinder ein Mitspracherecht und lernen demokratische Strukturen kennen.

Stehen Demokratieverständnis und Menschenrechte auf dem Lehrplan - bringt das die Jugendlichen zuweilen auch zu besonderen künstlerischen Leistungen. So war das im Januar an der Fachoberschule Karlsfeld. Die Schüler schrieben und inszenierten das Theaterstück "Vielleicht irgendwann". Das Stück erzählt die Geschichte einer afghanischen Familie, die nach Deutschland geflohen ist. Auf der Bühne spielten Flüchtlinge zusammen mit Schülern. Die Aufführung sensibilisierte für die Probleme von Flüchtlingen und baute Vorurteile ab - ein klarer Fall von Demokratieerziehung von und für Schüler.

Zurück zur Mittelschule Karlsfeld. Sabine Mühlich, die Religionspädagogin, organisiert und leitet die Projekttage, die jedes Jahr an der Schule rund um das Thema Demokratie stattfinden. Das diesjährige Motto lautete "Ehrensache". "Ehrenmann" war das Jugendwort des Jahres 2018. "Die Kinder können sich, die Lehrer und das Thema neu erfahren", sagt Mühlich. Eine Vielzahl unterschiedlicher Workshops und Exkursionen stand zur Auswahl. Eine Gruppe durfte sich zum Beispiel unter der Regie der ehemaligen Profifechterin und jetzigen Lehrerin Carina Sieber mit Florett und Maske versuchen. Früher waren Duelle eine Ehrensache und dienten zur Austragung von Konflikten, heute sind es beim Sportfechten vor allem der Umgang mit dem Gegner und der Fairplay-Gedanke, die den Begriff der Ehre ausmachen - auch das sollen die Schüler lernen. "Es ist interessant, wie man Ehre und Demokratie verbinden kann", erklärt Schulleiter Hakan Özcan. Und es macht auch noch sehr viel Freude, wie die Schülerin Anna Amthor ergänzt.

KJR-Geschäftsführer Ludwig Gasteiger freut sich über die engagierten Lehrerinnen und Lehrer im Landkreis. Schule ist ein zentraler Raum für die Demokratieerziehung. "In der Schule treffen alle Leb ensweisen aufeinander, da gilt es die Unterschiede zu akzeptieren. Jeder hat ein Recht, hier zu sein und zu leben, wie er möchte", sagt Gasteiger. Aber es bedarf seiner Einschätzung zufolge noch mehr Anstrengung - "gerade beim Thema diskriminierungsfreies Miteinander werden die Lehrkräfte teils von neuen Technologien überrollt". Mit Blick auf soziale Medien und Cybermobbing sei das ein großes Problem. Der einmal eingeschlagene Weg führt noch lange nicht zum Ziel - aber alle Beteiligten, Lehrer wie Schüler, können jetzt schon sagen: So macht Schule unglaublich viel Spaß.

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Quelle:
SZ vom 26.04.2019
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