Süddeutsche Zeitung

Schönbrunn/Röhrmoos:Unbeschwerte Leichtigkeit

Die elfte Sinfonische Sommernacht des Kulturkreises Röhrmoos mit einer blendend aufgelegten Wilden Gungl und dem temperamentvollen Dirigenten Michele Carulli. Den musikalischen Höhepunkt setzen sie mit Elgars Enigma-Variationen.

Von Dorothea Friedrich, Schönbrunn/Röhrmoos

Dieser Abend ist von Italien inspiriert. Zunächst weil nach einem heftigen Gewitter die Sonne dem Schönbrunner Marienplatz einen fast herrschaftlich anmutenden Piazza-Anstrich verleiht. Vor allem weil italienische Komponisten - Luigi Boccerini/Luciano Berio, Saverio Mercadante und Giaocchino Rossini mit "Variationen" das Programm der elften Sinfonischen Sommernacht des Kulturvereins Röhrmoos dominieren.

Die europäische Fahne halten gewissermaßen der Brite Edward Elgar sowie der Burschen- und Mädchenverein Röhrmoos hoch. Der eine mit seinen Enigma-Variationen, die anderen mit Obatzda, Schmalzbroten, Waffeln, Bier und Wein. Verantwortlich für das italienische Flair im Franzsikuswerk sind Dirigent Michele Carulli und das Münchner Symphonieorchester Wilde Gungl. So sieht man schon lange vor Konzertbeginn eine entspannte Menschenmenge die Hauptstraße entlang flanieren. Das steckt an. Allerdings nicht jeden.

Kulturkreis-Vorsitzender Michael Wockenfuß und sein Team sind noch schwer beschäftigt. Carulli und seine Wilde Gungl stecken in den letzten Proben. Noch in Alltagskleidung spielen sie die beiden Klarinettenstücke. Das hat seinen besonderen Grund. Weil Klarinettist Enrico Maria Beroni abgesagt hatte, hat Carulli, der bereits mit 19 Jahren Soloklarinettist im Orchester der Mailänder Scala war, auch diesen Part übernommen. Eine Aufgabe, die Präzision und Konzentration erfordert, vom Können einmal ganz abgesehen. So bringt Carulli mit charmanter Strenge die Zuhörer erst einmal zum Schweigen. Gegen die Flugzeuge am Himmel, gegen irdisches Glockengeläut und die Schläge der Turmuhr hat der Maestro ebenfalls ein probates Gegenmittel: Einen Vulkanausbruch an Musikalität, der die Wilde Gungl in die unendlichen Weiten des musikalischen Kosmos beamt. Doch davon später mehr.

Noch sind die Kulturkreishelfer mit ganz und gar irdischen Angelegenheiten beschäftigt: Nach einem Nachmittagsgewitter müssen sämtliche Stühle für die 500 Besucher getrocknet werden. Das Gewusel genießt ein Mann geradezu tiefenentspannt: Michael Christoph, Gründer, Motor und Visionär des Kulturkreises. Im März hat er sein Amt an Michael Wockenfuß abgegeben. Das Publikum wird ihn später ausführlich mit Applaus würdigen. Und noch jemand hat an diesem Abend einen neuen Blick auf die große Bühne: Nach 45 Jahren gab Jaroslav Opela Anfang 2015 den Taktstock an Michele Carulli weiter. Christoph und Opela waren begeistert von ihrer ersten Sommernacht als Zuhörer.

Doch dann endlich: Die ersten Takte der Quattro "Versioni originali della Ritirata notturna di Madrid" von Luigi Boccerini/Luciano Berio erklingen. Und als habe nicht der Dirigent den Taktstock sondern jemand aus der Harry-Potter-Clique den Zauberstab gehoben, wird der Marienplatz zur Theaterbühne. Ruft dort nicht der Trommler seine Soldaten zusammen? Bewegt sich da nicht auf Zehenspitzen eine andächtige Prozession durch das Madrid des 19. Jahrhunderts, gefolgt von verdächtigen Gestalten auf leisen Sohlen, umringt von Gauklern und Musikanten? Der Spaß geht viel zu schnell vorbei. Und dem Publikum bleibt begeisterte Bewunderung für die Wilde Gungl, die aus diesem Kabinettstückchen und seinem Melodienreichtum mit unbeschwerter Leichtigkeit, mit sich rasant steigernden Tempi mit Sensibilität hochkarätigem Spiel ein Schauspiel ohne Darsteller, aber mit süffig-eleganter Musik gemacht hat.

Dirigent Carulli, nun die Haare ganz à la Beethoven nach hinten gefönt und mit modischem Spitzbärtchen, in klassischem Schwarz, mit blitzblanken Lackschuhen macht bei seinem ersten Konzert in Schönbrunn bella figura in jeder Hinsicht. Er dirigiert souverän und mit vollem Körpereinsatz die Werke von Boccerini/Berio, Saverio Mercadante, Giaocchino Rossini und Edward Elgar. Der Mann hat ein vulkanisches, musikalisches Temperament, kombiniert mit viel Einfühlungsvermögen. Beispielsweise als Orchesterleiter und Solist bei Mercadantes Konzert für Klarinette und Orchester in B-Dur. Erfreut sich übrigens, einmal nicht mit dem Rücken zum Publikum musizieren zu dürfen.

Gut, dass die Zuschauer jetzt fasziniert den realen und musikalischen Sprüngen und Verneigungen Carullis vor den Tönen seines Landsmanns Mercadante folgen können. Dieser war im 19. Jahrhundert mindestens so bekannt wie Bellini und Donizetti. Ein melodischer Regen strömt auf die gebannten Zuhörer ein, ein entfesselter Solist erweist sich als wahrer Meister - jahrelange Klarinetten-Abstinenz hin oder her - mit seinem Instrument und dem Taktstock. Als hätte Mercadante diese Musik für diesen Treffpunkt so vieler Schicksale komponiert, hüllt sie jeden Winkel im Franziskuswerk wie mit spinnwebfeiner Seide ein, erzählt von himmelhochjauchzender Freude und abgrundtiefer Traurigkeit. Bei so viel Musikalität wundert es nicht, dass sich Carulli und die Wilde Gungl anschließend buchstäblich auf Rossinis Introduktion, Thema und Variationen für Klarinette und Orchester stürzen und Papagenos Arie "Ein Mädchen oder Weibchen" aus Mozarts Zauberflöte, für drei Klarinetten von Carulli arrangiert, zur zärtlichen Zugabe wird.

Steht nach so viel expressiver italienischer Lebensfülle nun britische Distinktion auf dem Programm? Keineswegs. Ganz im Sinne des Werbespruchs "Das Beste kommt zum Schluss" gibt es nach der Pause Elgars Enigma-Variationen. Kaum ein Wort trifft dieses extraordinäre Werk besser als Enigma: Rätsel. Abenteurer sind im Entstehungsjahr 1898 die Helden der Stunde, ferne Welten locken. Die Nimrod-Variationen tragen die einen meisterhaft spielend, die anderen fast selbstverloren zuhörend in Gefilde hinweg, in denen jedes Rätsel eine Lösung findet. Oder auch nicht. Ein wahrer Sommernachtstraum.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2015
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