Euthanasie im Dritten Reich:Das lange Schweigen der Kirche

Das Franziskuswerk im oberbayerischen Schönbrunn ist eine der wichtigsten sozialen Einrichtungen der Kirche für geistig Behinderte. Jetzt wird bekannt, dass zur Nazi-Zeit Hunderte Bewohner deportiert wurden. Forschern zufolge gab es kaum Widerstand.

Wolfgang Eitler

Die katholische Kirche in Bayern steht vor einer schmerzlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms von 1940 bis 1945. Sie wird klären müssen, warum sie bisher zu den Vorgängen in Schönbrunn im Landkreis Dachau, einer der wichtigsten sozialen Einrichtungen der Kirche für Menschen mit geistiger Behinderung, geschwiegen hat. Oder warum sie die historische Forschung verzögerte.

Euthanasie im Dritten Reich: Eine Gedenktafel an der Kirche in Schönbrunn erinnert an die Heimbewohner, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Eine Gedenktafel an der Kirche in Schönbrunn erinnert an die Heimbewohner, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Erzdiözese München-Freising benötigte mehr als ein Jahrzehnt, um das Archiv von Schönbrunn zu ordnen. Zu diesem Ergebnis kam am Donnerstag ein wissenschaftliches Symposium in Schönbrunn, das erstmals die Rolle des heute gemeinnützigen Franziskuswerks und der damals kirchlichen Anstalt diskutierte. Generaloberin Benigna Sirl war nach den Vorträgen der Historiker geschockt und ratlos: "Das alles trifft uns hart."

Winfried Süß vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam sieht in Schönbrunn sogar eine der wenigen Einrichtungen für behinderte Menschen, die damals "ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden". Andere hätten versucht, Angehörige ihrer Schutzbefohlenen vor Deportationen zu warnen. Die Leitung von Schönbrunn habe dagegen "mutwillig" mit Nationalsozialisten kooperiert.

Diese Zuspitzung teilten die übrigen Historiker nicht. Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf von der Technischen Universität München warnte vor allzu plakativen Schlüssen, welche das Bemühen der Franziskanerinnen, beispielsweise ihre Versuche, Krankenakten zugunsten ihrer Zöglinge zu verändern, nicht berücksichtige.

Der Orden feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen in dem kleinen Ort Schönbrunn im Landkreis Dachau, der seit 150 Jahren geistig behinderte Menschen betreut. Zurzeit sind es fast 1000. So viele waren es vermutlich auch 1939. Am 2. Juni 1944 wurden die letzten Bewohner, 44 Kinder, deportiert. Die Franziskanerinnen wollten die beiden Jubiläen voller Stolz und Selbstbewusstsein begehen. Seit Donnerstag wissen sie, dass sie die Forderung von Markus Krischer, Redakteur des Focus und Autor des einzigen Standardwerks über die Deportationen aus Schönbrunn nicht erfüllen können: "Nennen sie mir einen Tag, der diesen 2. Juni 1944 aufwiegt."

Zum NS-Widerstandskämpfer umgedichtet

Seit der ersten Debatte über die Rolle des Dachauer Arztes und vormaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, Hans Joachim Sewering, hat es mehr als 30 Jahre gedauert, bis nun die wesentlichen historischen Fakten vorliegen. Seit 2006 ist durch Krischers Nachforschungen klar, dass der damalige Direktor, Prälat Josef Steininger, mit den Nationalsozialisten kooperierte und gemeinsam mit dem Gesundheitswesen der Stadt München die Deportation der geistig behinderten Menschen vorantrieb. Sie wollten ausreichend Platz für die Auslagerung der Münchner Krankenhäuser schaffen, um sie vor den Bomben zu schützen.

Annemone Christians, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, hat in einer Doktorarbeit Krischers Einschätzung im Detail untermauert. Demnach wusste Steininger seit 1940, dass die in die staatliche psychiatrische Klinik Haar-Eglfing deportierten Menschen getötet wurden. Tanja Kipfelsberger erforscht bei dem Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf das Schönbrunner Archiv. Sie hat bisher 901 Akten ausgewertet. Nur 293 Bewohner von Schönbrunn überlebten die Euthanasie. Soweit der vorläufige Stand der Forschung.

Außerdem haben die beiden Wissenschaftlerinnen belegt, dass Sewering entgegen seiner eigenen Darstellung, die er bis zum Tod im Juli 2010 aufrecht erhielt, in neun nachweisbaren Fällen an den Deportationen beteiligt war. Prälat Steininger dichtete sich zum NS-Widerstandskämpfer um und fälschte somit auch die Geschichte Schönbrunns. Sewering gab den Arzt mit hohen ethischen Grundsätzen. Katholische Kirche oder Bundesärztekammer glaubten ihnen.

Seit Donnerstag stellt sich die dringliche Frage nach dem würdigen Gedenken an die Schönbrunner Opfer. Gerrit Hohendorf sagte: "Wir müssen sie der Marginalisierung durch die Nachkriegsgeschichte entreißen." Den Weg dorthin zeigt Tanja Kipfelsberger mit ihren Biografien der Opfer.

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