Rückblick:Zwischen Heimat und irgendwie linken Umtrieben

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Am 3. Mai 1977 erschien die erste Ausgabe der Dachauer Neuesten Nachrichten.

  • Vor 40 Jahren hat die SZ eigene Lokalausgaben in den Landkreisen rund um München gestartet.
  • Aus diesem Anlass haben wir unsere Leser nach dem Lebensgefühl im Großraum gefragt. Die Ergebnisse sowie viele weitere Geschichten finden Sie im digitalen Dossier "Stadt, Land, Plus".

Von Kurt Kister

Wie sehr sich eine Stadt mit der Zeit verändern kann, erkennen vielleicht am besten jene, die mal da gelebt haben und nach Jahren oder Jahrzehnten wiederkommen. So ging es mir im Mai 2011, als ich inmitten einer veritablen Menschenmenge auf dem Rathausplatz stand und den Fleet Foxes zuhörte. Die Fleet Foxes sind eine Band von der amerikanischen Westküste; 2011 waren sie sehr bedeutend, sehr hip, sehr angesagt und etwas für Leute, die ein besonderes Faible für ebenso anspruchsvollen wie gesichtsbehaarten Indie-Folk haben.

In meiner Wahrnehmung waren die Fleet Foxes eigentlich nichts für den Dachauer Rathausplatz. Das lag daran, dass ich, 1957 in Dachau geboren, zu einer Zeit in Dachau lebte, in der Kultur in dieser Stadt der Trachtenumzug beim Volksfest sowie die vom damaligen Oberbürgermeister herausgegebenen Kunstbände waren.

Der Biwi - heute ein Objekt kultischer Verehrung

Jugendkultur (in sehr weitem Sinne zählen heute die Fleet Foxes unter anderem auch zur Jugendkultur) war, sagen wir im Jahre 1974, die Wochenend-Disco in Altomünster (ich glaube, sie hieß Ferry oder so) sowie der Biwi, also der Kochwirt. Wenn ich das richtig mitgekriegt habe, ist der Biwi bis heute unter jenen, die damals jung waren, ein Objekt kultischer Verehrung geblieben, auch wenn er in jenen Zeiten überwiegend eine Heimstatt für Bierphilosophen, Dritt-Semester-Schafkopfer und berauschte Mooskünstler war.

Mein Dachau war Mitte der Siebzigerjahre einerseits eine reizende Kleinstadt, in der sich viele kannten. Es war Heimat. Andererseits war es auch eine manchmal stockkonservative Kleinstadt, in der gerade die nähere Beschäftigung mit der Nazi-Zeit vielen sogenannten alten Dachauern als eine Mischung aus Nestbeschmutzung und irgendwie linken Umtrieben erschien.

Wer sich für Ludwig Thoma und die Malerkolonie interessierte, war gut gelitten. Andere nicht so sehr. Die Vorstellung, die Stadt habe mit "dem Lager" eigentlich nicht viel zu tun gehabt, war damals so etwas wie die regierende Stadtideologie. Manche von uns Jüngeren nervte dies gewaltig. Wir witterten überall Verdrängung, wodurch sich die "alten Dachauer" wiederum in ihren Vorurteilen uns gegenüber bestätigt fühlten.

Ich bin in einem Sozialwohnungsblock in Dachau-Ost aufgewachsen. "Flüchtlinge" gab es damals sehr viele, aber die stammten nicht aus Syrien oder Afghanistan, sondern aus Schlesien oder dem Sudetenland. In unserem Block wohnten ehemalige Angehörige der SS Tür an Tür mit ehemaligen Zwangsarbeitern. Sie hatten sich miteinander arrangiert, was mir, je älter ich wurde und immer mehr zu verstehen glaubte, umso unverständlicher erschien. Es war eine sonderbare Zeit, wozu passte, dass wir während meiner gesamten neun Jahre auf dem Dachauer Gymnasium kein einziges Mal mit der Schule die Gedenkstätte besucht haben.

Als ich nach der Bundeswehr sicher war, dass ich Journalist werden wollte, bewarb ich mich erst mal um eine freie Mitarbeit - bei der Dachauer Ausgabe des Münchner Merkur. Zwar hatte die SZ wenige Monate zuvor ihre neue Lokalausgabe gestartet - die Dachauer Neueste - , aber irgendwie hatte ich zuviel Respekt vor der SZ aus München und andererseits hatten wir zuhause den Merkur jeden Tag und die SZ nur am Wochenende.

Manchmal vielleicht zu politisch

Beim Merkur schrieb ich ein paar Monate für 25 Pfennig die Zeile. Dann warb mich ein Kollege von der Dachauer Neuesten ab. Die zahlten übrigens 50 Pfennig die Zeile. Irgendwie führte mich in den nächsten Jahrzehnten der Weg von der Redaktion gegenüber dem Kaufhaus Hörhammer in den 25. Stock des Verlags-Hochhauses, wo ich heute als Chefredakteur der Zeitung sitze.

Damals hatte ich als junger Mensch und freier Mitarbeiter nicht unbedingt den Eindruck, dass das Dachauer Establishment auf eine zweite Lokalzeitung gewartet hatte. Wir wollten, in den Fußstapfen der großen SZ in München, kritisch und politisch sein. Manchmal waren wir vielleicht zu politisch. Auch ich schoss gelegentlich über das Ziel hinaus, wenn ich etwa versuchte, nahezu gottgegebene Streitigkeiten wie den Zoff zwischen Tandern und Hilgertshausen besonders klug zu beschreiben. Und dennoch entstand rund um die Zeitung auch eine Gemeinde von Lesern.

Für eine Stadt wie Dachau hat eine Zeitung wie die SZ-Lokalausgabe eben nicht nur die Funktion, Information, Kommentierung und Unterhaltung zu bieten. Sie kann auch, nicht für alle, ein Teil des Alltags, der Heimat werden. Das ist sie bei unseren langjährigen Abonnenten, von denen ich manche noch von früher kenne. Ich bin bis heute ein wenig stolz darauf, dass etliche aus der Dachauer-Neueste-Gemeinde bis heute ihrer Zeitung treu geblieben sind.

Keine andere Art des Journalismus setzt sich so sehr und so direkt wie der Lokaljournalismus mit denen auseinander, für die er auch gemacht wird. Als Lokaljournalist begegnet man vielen, über die man schreibt, nicht nur als Objekten der Recherche. Sie sind auch Nachbarn und Leser der Zeitung. Wenn ich heute als Leitartikler über Angela Merkel oder Wladimir Putin urteile, begegne ich ihnen nicht mittags beim Metzger. Als Lokaljournalist hat man solche Erlebnisse dauernd.

Zwei Schulkameraden als Oberbürgermeister

Ich schrieb damals zum Beispiel gelegentlich über einen sehr großspurig auftretenden Rechtsanwalt, der eine gewisse Rolle in der Lokalpolitik spielte (Namen habe ich vergessen ...). Unser Verhältnis war durchwachsen, so durchwachsen, dass er mal über die Konrad-Adenauer-Straße hinüber schrie: "Wennst no amoi so an Schmarrn schreibst, dann ..." Allerdings fühlte man sich durch solche Erlebnisse auch meistens weniger bedroht als vielmehr irgendwie geadelt.

Weil ich seit Jahrzehnten nicht mehr in Dachau lebe, haben sich die Bande sehr gelockert. Eines allerdings habe ich überall dort, wo es ging, beibehalten: Ich lese die Dachauer SZ. In Washington ging das nicht, in Bonn und Berlin war's in der Vor-Internet-Zeit schwierig. Und doch habe ich verfolgt, dass auf Lorenz Reitmeier zwei Schulkameraden von mir als Oberbürgermeister folgten. Und jetzt ist einer OB, der zehn Jahre jünger ist als die Dachauer SZ. Die Stadt hat sich wirklich verändert.

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