Rezension:Die verlorene Generation

Der Historiker Thomas Wagner analysiert in seinem Buch die Entstehung der Hitlerjugend in Südbayern. Die eindrucksvolle Studie ermuntert die heutige Jugend zur historischen Spurensuche und kritischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsruck in der Gegenwart

Von Marie Groppenbächer

Dachau/München - Unter den amerikanischen Truppen, die im Oktober 1944 in Deutschland einrückten, war ein Offizier, der perfekt Deutsch sprach. Saul K. Padover stammte aus Wien, und er hatte einen besonderen Auftrag. Er sollte herausfinden, was die besiegten Deutschen dachten und fühlten. Unter den vielen, die er zu Adolf Hitler, den Massenmord an den Juden, zum Krieg und zu den Alliierten befragte, waren es nicht die älteren Männer und Frauen, die ihm mit Hass begegneten. Die damals 20-Jährigen traten in den Vernehmungen arrogant, fanatisch und als treue Ergebene der Naziideologie auf. Es waren Angehörige der Generation, die in den Jahren der Naziherrschaft in der "Hitlerjugend" und im "Bund Deutscher Mädel" erzogen und geprägt worden waren.

Mit der Hitlerjugend in Oberbayern hat sich der Münchner Historiker Thomas Wagner in seinem Buch "Zum Sterben in Deutschland geboren" auseinandergesetzt. Der Titel legt den Gedanken nahe, dass die damalige deutsche Jugend Opfer des Naziregimes gewesen ist. Das könnte man so sehen, denn tatsächlich ist die Persönlichkeit junger Menschen noch nicht ausgeformt, ihr Erfahrungsschatz eher gering und ihr Urteilsvermögen nicht ausgeprägt.

"Wir müssen die Garantie haben, dass der nationalsozialistische Staat seine Mission in der kommenden Generation voll erfüllt. Und deshalb ist es eine vordringliche Aufgabe, diese Generation so zu erziehen, dass nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche und kulturelle Nationalsozialisten entstehen und dass diese Jugend auch vollständig für den Nationalsozialismus lebt; denn heute sind wir vom totalen Staat noch weit entfernt", stand 1934 im Murnauer Tagblatt. Doch die tiefschürfende Studie Thomas Wagners macht auch deutlich, dass die Nationalsozialisten in der deutschen Jugend nicht nur wegen ihrer aggressiver Werbemethoden und attraktiven, nicht immer legalen Angeboten großen Widerhall fanden.

Schon Jahre bevor die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend 1939 zum Zwang wurde, hatte sie enormen Zulauf. Im Juni 1933 hatte Hitler Baldur von Schirach zum "Jugendführer des deutschen Reiches" gemacht. Andere Jugendverbände wurden aufgelöst, bis 1938 wuchs die Hitlerjugend auf sieben Millionen Mitglieder an und wurde nach der Verpflichtung auf bis zu 8,7 Millionen Mitgliedern ausgebaut - 98 Prozent aller deutschen Jugendlichen. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg hatten sich, wie Thomas Wagner schreibt, die Jugendlichen nicht gegen die ältere Generation, wie das üblich ist, gewandt. Sie standen gegen Altersgenossen, die andersdenkenden politischen Lagern angehörten. "Jugendgruppen, die sich auf den Boden der demokratischen Verfassung stellten, waren selten." Auf den Friedensvertrag reagierte die Mehrheit der Jugendlichen ebenso wie Erwachsene mit Trotz und Wut.

Wehrertüchtigung beim Jungvolk der HJ

Auf dem Schießstand einer Kaserne der Luftwaffe versuchen sich die Pimpfe der Hitlerjugend im Schießen.

(Foto: SZ-Archiv)

Die völkische und antisemitische Erziehung durch das Naziregime fiel auf einen fruchtbaren Boden. In der Weimarer Zeit gehörten vor allem die Söhne des Großbürgertums den Organisationen der "Bündischen Jugend" an, die ihre Mitglieder in Uniformen kleideten, militaristisch und antidemokratisch ausrichteten und Zeltlager veranstalteten. Bereits 1921 gab Hitler dem Klavierpolierer Adolf Lenk die Anweisung, eine nationalsozialistische Jugendorganisation zu gründen. Fünf Jahre später erhielt sie den Namen "Hitlerjugend" und wurde schließlich unter dem dann etablierten nationalsozialistischen Regime in Deutschland zur einzigen staatlich anerkannten Jugendorganisation.

Die meisten Mitglieder traten freiwillig bei. Zeltlager, Ausflugsfahrten, gemeinsame Abende und Sportveranstaltungen gehörten zum Freizeitvertreib gut betuchter Familien und deren Sprösslinge. Die Hitlerjugend bot Jugendlichen diese Möglichkeiten. Zeltlager erschienen genau das richtige Format zu sein, um die jungen Leute ungestört, frei von anderen Einflüssen aus Gesellschaft und Familie mit nationalsozialistischem Gedankengut zu indoktrinieren.

Murnau am Staffelsee, im Landkreis Garmisch-Partenkirchen gelegen, war schon früh eine Hochburg der Nazis. "Die idyllische Landschaft des bayrischen Alpenvorlandes - jedoch nicht zu weit entfernt von Krankenhäusern und anderer Infrastruktur - schien den Nationalsozialisten ideal. Hier sollten Jugendliche im Sinne der NS-Ideologie geprägt werden", schreibt Thomas Wagner. Auf 155 Seiten beschäftigt sich der Münchner Historiker mit der Aufarbeitung der Geschichte der oberbayrischen Hitlerjugend. Den Fokus legt er dabei auf die Untersuchung der Hochlandlager bei Murnau, Lenggries/ Jachenau und Königsdorf, den Alltag im Lager, die Ideologie und wie sie den Jugendlichen vermittelt wurde. Erstmalig arbeitet er damit die Geschichte der Jugendorganisation in Bezug auf die Region Oberbayern auf. Dabei bettet er diese in den Kontext der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland ein.

Rezension: Eine Ausstellung von Exponaten der Hitlerjugend im Bezirksmuseum Dachau.

Eine Ausstellung von Exponaten der Hitlerjugend im Bezirksmuseum Dachau.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Im Vordergrund der Zeltlager, an denen zwischen 4000 und 6000 Jungen und Mädchen - der "Bund Deutscher Mädel" war der weibliche Zweig der Hitlerjugend - teilnehmen konnten, stand die "pathetische Selbstinszenierung der NSDAP und ihrer Funktionäre". So gehörte zur täglichen Routine, in Reih und Glied an prominenten Parteimitgliedern vorbeizumarschieren, um anschließend den Organisatoren der Hochlandlager, Baldur von Schirach, Adolf Wagner und Emil Klein Ehrbezeichnungen entgegen zu bringen. Mit Ferienlager hatte das wenig zu tun.

Der Tag war durchgetaktet. Von der Morgengymnastik, dem Morgenappell, über den Morgen- und Nachmittagsdienst bis hin zur Nachtruhe um 22 Uhr war alles genaustens geplant. Ohne schriftlichen Befehl oder Passierschein durfte das Lager nicht verlassen werden. Besuch war nur an wenigen Tagen gestattet. Im Laufe der Kriegsjahre näherten sich der Alltag im Hochlandlager immer stärker dem der Wehrertüchtigungslager an, bis schließlich die Gymnasialzeit in Bayern auf fünf Jahre verkürzt wurde. Die Hitlerjugend musste als Flakhelfer dienen und sich aktiv am Krieg beteiligen.

Systematisch ordnet Thomas Wagner die Entstehung und Entwicklung der Jugendorganisation in das Zeitgeschehen ein. Dabei stellt er die zentralen Akteure vor. Geht auf andere Jugendverbände und die allmähliche Gleichschaltung der Jugend ein. Im letzten Kapitel befasst er sich mit dem Schicksal von Funktionären der Hitlerjugend in der Nachkriegszeit. Richard Etzel, ein Schulungsleiter, gründete 1950, nachdem er bei den Pfadfindern rausgeschmissen worden war, seine eigene Jugendgruppe. Der rechtsextreme "Jugendbund Adler" war vor allem in Norddeutschland und Bayern aktiv. Solche Beispiele verdeutlichen die Herkunft rechtsextremer Organisationen, die nach Kriegsende und bis heute Teil der Gesellschaft sind.

Buchtitel

Das Cover des Buches von Thomas Wagner.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Viele historische Fotografien und Abbildungen von Plakaten und Zeitungsausschnitten der damaligen Zeit veranschaulichen eindrücklich die einzelnen Themenblöcke. Der Anhang gibt genaustens Aufschluss über die verwendete Literatur. Auch oder gerade weil es ein wissenschaftliches Werk ist, ist es von einiger Bedeutung, dass der Historiker Thomas Wagner klar und gut verständlich schreibt.

Sein besonderes Verdienst liegt aber nicht nur darin, dass er ein wissenschaftlich fundiertes Buch verfasst hat. Er ermuntert junge Leute zur historischen Spurensuche und kritischen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, wie Josef Birzele, Leiter der Jugendsiedlung Hochland, Jugendbildungsstätte Königsdorf, urteilt.

Das Buch ist ein willkommener Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über Gefühlserbschaften und Familiengedächtnis im Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus seit Kriegsende. Woher rührt der erstarkende Antisemitismus, der Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft, in ihrer Mitte? Dazu gibt es viele Erklärungen und Theorien, die alle ihren berechtigten Anteil an einer zutreffenden Analyse der bedrohlichen gesellschaftlichen Entwicklung haben. Doch stellt sich eben auch die Frage: Ist nicht die fortgesetzte Weigerung, sich mit der Nazigeschichte der eigenen Familie auseinander zu setzen, auch ein Grund für das Wiederaufleben des Antisemitismus?

Opa war kein Nazi - eben doch, leider, in den meisten Fällen. Die zu Kriegsende 20-Jährigen haben Familien gegründet, Kinder in die Welt gesetzt - und über ihre Verantwortung und Schuld geschwiegen. Einer hat geredet und gewarnt: Günther Roos, Jahrgang 1924, aus Brühl in Nordrhein-Westfalen, ging durch die Schule der Hitlerjugend. "Manchmal meine ich Adolf Hitler und ich waren die einzigen Nazis - alle anderen waren Widerstandskämpfer in diesem Land." Günther Roos, der 2013 verstorben ist, hat seine Verstrickung ins Naziregime kritisch reflektiert.

Thomas Wagner

Der Autor und Historiker erforschte Entstehung und Entwicklung der Hitlerjugend vor allem in Südbayern. Sein Werk bietet viele wichtige aktuelle Bezüge.

(Foto: oh)

Thomas Wagner rollt die Geschichte der Hitlerjugend, ein scheinbar bekanntes Thema, auch aus diesem Blickwinkel auf und deckt Unbekanntes auf. Er trifft damit den Nerv der Zeit: Der Zulauf zu rechtsextremen Parteien und Positionen wächst. Heute dienen soziale Medien wie Facebook oder Youtube als Propagandaplattform. Statt sachlicher Argumente setzen sie auf Emotionen. Das wirkt. Facebook-Postings der AfD werden sehr viel häufiger angeklickt, als die anderer deutscher Parteien. Junge Leute konsumieren tagtäglich die sozialen Medien.

In seinem Vorwort zitiert Thomas Wagner den Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer, der bis zu seinem Tod 2016 Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees und Vorsitzender der Lagergemeinschaft war: "Ihr seid nicht verantwortlich, für das, was geschehen ist. Aber dafür, dass so etwas nie wieder geschieht." Dieser Verantwortung wollte der Historiker Thomas Wagner, der Max Mannheimer kannte, mit seinem Werk gerecht werden. Das ist ihm gelungen.

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