Gedenkfeier:Gegen den tiefverwurzelten Hass

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Ein ökumenischer Gottesdienst zum Gedenken an die Pogrome. (Foto: Toni Heigl)

Wegen der Corona-Pandemie findet lediglich ein Gottesdienst im Gedenken an die Opfer der Pogrome statt. Die geistlichen Redner blicken nicht nur zurück, sondern schlagen auch eine Brücke in die Gegenwart.

Von Walter Gierlich, Dachau

Normalerweise wird in Dachau seit Jahrzehnten der Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November mit großen Veranstaltungen gedacht. Die längste Tradition hat seit 1952 die alljährliche Gedenkfeier der DGB-Jugend auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte. Seit Ende der Achtziger laden zudem die Stadt Dachau, das Dachauer Forum und die KZ-Gedenkstätte aus diesem Anlass ins Rathaus ein, wo in diesem Jahr Sabine Bloch, die Tochter des 1938 aus Dachau vertriebenen Kurt Bloch (1905-1961) Ehrengast gewesen wäre. Insgesamt 15 jüdische Frauen und Männer wurden in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 aus Dachau verjagt, ehe am nächsten Tag in ganz Deutschland die Synagogen brannten und 11 000 Männer ins KZ Dachau verschleppt wurden.

Beide Veranstaltungen mussten wegen der Pandemie abgesagt werden, einzig ein ökumenischer Gottesdienst findet statt. Für die Besucher, selbst wenn es Corona-bedingt nur knapp 50 sein durften, wird dabei deutlich, wie wichtig echtes Erleben ist - und dass ein Streaming-Angebot immer nur eine Notlösung sein kann. "Gemeinsam gegen Antisemitismus" - so haben die evangelische Versöhnungskirche sowie der katholische Pfarrverband Heilig Kreuz und Sankt Peter den Gottesdienst betitelt, in dem es nicht allein um die Novemberpogrome von 1938 geht. Die insgesamt sechs Geistlichen und Leser schlagen eine Brücke in die Gegenwart, denn nach dem Ende der Nazi-Herrschaft 1945 war keineswegs Schluss mit dem Judenhass in Deutschland.

Gedenkfeier
:"Lebt wohl!"

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Die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes liegt bei den Beauftragten der katholischen und der evangelischen Kirche für die KZ-Gedenkstättenarbeit in Dachau: Pastoralreferent Ludwig Schmidinger und Kirchenrat Björn Mensing. Unterstützt werden sie beim namentlichen Gedenken von Gemeindereferentin Angelika Elsen-Heck und Diakon Stephan Kauschinger vom Pfarrverband sowie von Luise Krispenz, Dritte Bürgermeisterin von Dachau. Die Predigt hält Christian Kopp, evangelischer Regionalbischof für München und Oberbayern. An der Orgel begleitet Norbert Englbrecht den Gottesdienst.

In ihrer Begrüßung zeigt Gemeindereferentin Angelika Elsen-Heck vom Pfarrverband auf, warum die große katholische Pfarrkirche Heilig Kreuz in Dachau-Ost ein passender Ort für dieses Gedenken ist. Das Gotteshaus steht auf den einstigen landwirtschaftlichen Flächen des Liebhofs. Den Hof hatte die SS im Jahr 1939 gekauft. Etwa 800 Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau mussten dort unter unsäglichen Bedingungen schuften. Der Hof war damals Teil des mörderischen Arbeitskommandos "Plantage". Ein Jahr nach der Befreiung des KZ im Mai 1946 bezogen 40 Holocaust-Überlebende den Liebhof, um dort landwirtschaftliche Kenntnisse zu erlernen, als Vorbereitung zur Auswanderung nach Palästina. Die neuen Bewohner nannten ihr vorübergehendes Zuhause "Kibbuz Bialik", nach dem jüdischen Dichter Chaim Nachman Bialik. Bis zur Auflösung der jüdischen Schulungsbauernhofs im Juni 1947 lebten insgesamt 49 Männer und Frauen dort. Sie waren Teil der jüdischen Gemeinschaft, die in den Nachkriegsjahren in Dachau mehr als 300 Männer, Frauen und Kinder umfasste, einige von ihnen Überlebende des Konzentrationslagers Dachau. 1962 sei der Hof abgerissen, so Elsen-Heck, und die Kirche Heilig Kreuz errichtet worden. Diese hatte ihre Wurzel im Wirken von Pater Roth. Roth, der die Weihe der Pfarrkirche 1964 nicht mehr erlebte, war von den Nationalsozialisten ins KZ Dachau verschleppt worden.

An der Gedenkfeier dürfen aufgrund der geltenden Bestimmungen in diesem Jahr nur 50 Personen teilnehmen. (Foto: Toni Heigl)

Luise Krispenz macht den Anfang beim namentlichen Gedenken: Sie erinnert an Vera Neumeyer, die 1893 in Görlitz geboren wurde. Ihr Vater ist Jude, ihre Mutter kommt aus einer evangelischen Familie und lässt auch die Kinder taufen. "Sie verliebt sich in den erblindeten jüdischen Musikdozenten und Komponisten Hans Neumeyer. Die beiden heiraten 1920 in seiner Heimatstadt München und ziehen nach Dachau in die heutige Hermann-Stockmann-Straße." Vera gibt Kindern und Erwachsenen Tanz- und Gymnastikunterricht. 1923 bringt sie ihre Tochter Ruth zur Welt, im Jahr darauf ihren Sohn Raimund. Als Veras Mann ab 1933 als Jude nicht mehr unterrichten darf, hält sie die Familie mit privatem Sprachunterricht über Wasser. Am Abend des 8. November 1938, ihr Mann ist an diesem Tag in Berlin, wird sie von SA-Männern aufgefordert, Dachau zu verlassen. Es gelingt ihr, die Kinder im Frühjahr 1939 nach England zu schicken und so deren Leben zu retten. Vera Neumeyer selbst wird 1942 im KZ Auschwitz oder im Warschauer Ghetto ermordet. "Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wo und wann Vera ermordet wurde", berichtet Krispenz. Hans Neumeyer kommt 1944 im KZ Theresienstadt um.

Ludwig Schmidinger schildert das Leben des 1885 geborenen Hermann Schild, der ein Schuhgeschäft in Köln besaß. Er war im Stadtteil Mülheim hoch angesehen, doch nach 1933 wurde sein Geschäft boykottiert. Nach der Pogromnacht kam er - ebenso wie sein Sohn Erwin - für einige Wochen ins KZ Dachau. Der Sohn konnte später nach Kanada fliehen. Hermann Schild, seine Frau Hetti und Tochter Margot wurde nach Riga deportiert. Die Eltern starben, die Tochter überlebte.

Das Schicksal von Slowa Danischewska zeichnete Elsen-Heck nach. Danischewska wurde 1918 im ostpolnischen Oschmiana geboren, das 1939 von der Sowjetunion okkupiert wurde. Nach der deutschen Besetzung ihrer Heimat im Sommer 1941 wird die junge Jüdin ins Ghetto Wilna deportiert und muss dort Zwangsarbeit leisten. Am 17. Juni 1944 wird sie ins KZ Stutthof bei Danzig eingeliefert. Vermutlich lernt sie dort den Mithäftling Fischel Hallemann kennen. Nach dem Krieg kommt sie Mitte 1946 über Berlin nach Dachau auf den Liebhof in die "Kibbuz-Schule". 1947 heiratet sie Hallemann, 1948 kommt eine Tochter zur Welt. Die Familie wandert nach Israel aus, wo Slowa 2009 im Alter von 91 Jahren in Tel Aviv stirbt.

So alt zu werden, ist der 1979 geborenen Jana Lange nicht vergönnt gewesen, die am 9. Oktober 2019, in Halle von einem rechtsextremistischen Terroristen erschossen wurde. An sie erinnert Diakon Kauschinger. Sie ging zufällig am höchsten jüdischen Feiertag an der Synagoge vorbei, als der Attentäter vergebens versuchte, die Tür des Gotteshauses aufzusprengen. Kauschinger entzündet wie auch die Vorredner nun in der Kirche eine Kerze für den einige Minuten später im nahen Döner-Imbiss ermordeten Kevin Schwarze und für die in der Synagoge schwer traumatisierten Menschen.

Pfarrer Mensing erinnert mit seiner Kerze "an das Leid von all den in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Verfolgten und ihren Familien, von den Kommunisten, den Sozialdemokraten und den anderen Frauen und Männern im Widerstand, von den Sinti und Roma, den Zeugen Jehovas, den Homosexuellen, den als sogenannte Erbkranke, Asoziale und Berufsverbrecher Ausgegrenzten, den Kriegsdienstverweigerern, den Zwangsarbeiterinnen, den polnischen Priestern und sowjetischen Kriegsgefangenen". Er gedenkt aber auch "all der Menschen, die seit 1945 Opfer von antisemitischer, rassistischer, nationalistischer und religiös-fundamentalistischer Gewalt geworden sind und noch heute darunter leiden".

Der Hass von damals sei heute für uns kaum mehr vorstellbar, sagt Regionalbischof Kopp in seiner Predigt. "Welch primitive Hetze und was für ein antisemitischer Strom da am 8. und 9. November 1938 durch die Städte und Gemeinden Deutschlands fegte. Weit über 1000 Synagogen, unzählige Einzelhandelsgeschäfte und Wohnungen von jüdischen Familien in Deutschland wurden zerstört und geplündert. Menschen wurden misshandelt und gedemütigt. Später gequält und ermordet. Es reichte dafür Jude zu sein oder jüdische Vorfahren zu haben." Doch die damaligen Grausamkeiten hätten "keineswegs alle Menschen ein Besseres gelehrt", denn Antisemiten und Rassisten seien "unter uns" und witterten seit einiger Zeit Morgenluft. Hass und rassistische Überzeugungen seien tief eingepflanzt in die Überzeugungen vieler Menschen, betont Kopp. Er verweist dabei auch auf die Präsidentschaftswahlen in den USA, wo gezielt Zweifel und Falschmeldungen verbreitet würden. Er benennt außerdem den alltäglichen Antisemitismus und erklärt, "Christinnen und Christen stehen fest an der Seite der jüdischen Glaubensgeschwister". Der 9. November sei "der Tag der Erinnerung und der Stärkung unserer Widerstandsfähigkeit". Niemals mehr dürfe man wegschauen, wenn Menschen gequält, misshandelt oder verfolgt würden.

© SZ vom 10.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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