Prozess:"Versagen von Heimleitung und Landratsamt"

Auf die sexuellen Übergriffe eines dementen Heimbewohners haben die Verantwortlichen offenbar viel zu spät reagiert

Von Andreas Salch, Dachau

Ein 78-jähriger Bewohner einer Pflegeeinrichtung im Landkreis Dachau ist vor dem Landgericht München II wegen schwerer sexueller Übergriffe an zwei an Demenz erkrankten Mitbewohnerinnen verurteilt worden. Da auch der Beschuldigte laut dem Gutachten einer Forensikerin dement ist und zudem an Schizophrenien leidet, konnte er strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Die Richter der 3. Strafkammer ordneten deshalb die zeitliche unbefristete Unterbringung des Rentners in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik an.

In der Zeit zwischen Ende Oktober 2019 bis Ende März 2020 war es in der Pflegeeinrichtung zu insgesamt 27 sexuellen Übergriffen durch den Rentner gekommen. In vier Fällen soll der Mann eine der beiden Frauen auch vergewaltigt haben. Nachweisen konnte das Gericht dem 78-Jährigen aufgrund der zweitägigen Beweisaufnahme letztlich jedoch nur einen Fall. Ein Teil der in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft ermittelten sexuellen Übergriffe des Beschuldigten stellte das Gericht ein, da deren Ahndung sich nicht auf das Urteil ausgewirkt hätte.

Das Gericht folgte mit seiner Entscheidung dem Antrag von Staatsanwalt Thomas Ehemann. Ebenso der Verteidiger des Rentners, Rechtsanwalt Timo Westermann. Er nutzte sein Plädoyer, um auf die das Versagen der Heimleitung und des Landratsamtes Dachau in dem Fall hinzuweisen. Nachdem der 78-Jährige erstmals gegenüber den beiden Frauen in der Pflegeeinrichtung sexuell übergriffig geworden war, habe man "sofort reagiert", beteuerte der Einrichtungsleiter am Dienstag bei seiner Vernehmung vor Gericht. Er selbst habe jedoch "relativ spät von den Vorfällen erfahren." Warum, sagte er nicht. Als er Bescheid wusste, habe er unter anderem die Abteilung für öffentliche Sicherheit und Ordnung im Landratsamt Dachau über die sexuellen Übergriffe informiert, sagte der Einrichtungsleiter. Man werde sich wieder bei ihm melden, habe man ihm am Telefon zugesichert. Doch ein Rückruf sei nie gekommen. Die Überforderung der Heimleitung, der Pfleger und des Landratsamtes in der Frage, wie mit einem Bewohner umzugehen sei, der sexuell übergriffig geworden ist, "das ist sicherlich etwas, was noch einmal aufgegriffen werden muss", stellte Rechtsanwalt Westermann bei seinem Plädoyer fest.

Der Einrichtungsleiter beteuerte bei seiner Vernehmung, er habe sich auch an einen Arzt der Kliniken des Bezirks Oberbayern gewandt, als die sexuellen Übergriffe eskalierten. Es sei ein "Hilferuf" gewesen. "Wir haben alles versucht - zu spät. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten soll", räumte er ein. Er habe sich "allein gelassen gefühlt." Versuche, den 78-Jährigen an ein anderes Heim zu überstellen, seien gescheitert. Niemand habe den Rentner aufgrund der Vorfälle haben wollen. "Sexuelle Übergriffe" durch einen Bewohner "überschreiten unsere Kompetenz", gestand der Einrichtungsleiter und versicherte, dass er auch Kontakt zur Polizei aufgenommen habe. Die habe ihm jedoch gesagt, "es müsse erst was passieren", erst dann könne sie etwas unternehmen. Staatsanwalt Thomas Ehemann hielt dem Heimleiter daraufhin vor, dass dies eine "irrsinnige Aussage" sei.

Erst fünf Monate nach den ersten sexuellen Übergriffen des 78-Jährigen hatte der Einrichtungsleiter schließlich die Tochter der Frau informiert, die der Rentner vergewaltigt hatte. Die Tochter meldete dies sofort der Polizei. Daraufhin nahm die Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck umgehend die Ermittlungen auf. Der 78-Jährige konnte selbst nicht an dem Verfahren teilnehmen, da er nicht mehr verhandlungsfähig ist.

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