Süddeutsche Zeitung

Projekt:"Ein Leben ist mehr als ein Bindestrich"

Das Gedächtnisbuch ist eine stetig wachsende Sammlung von Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge in Dachau. Ehemalige Schüler haben nun weitere Lebensgeschichten recherchiert - und dabei auch neue Freunde gefunden

Von Katja Gerland, Dachau

Geboren 1906 im schlesischen Ratibor, gestorben 1987 in München - diese Jahreszahlen umrahmen das Leben von Walter Beier. Doch bei der Gedächtnisbuch-Präsentation des Projekts "Namen statt Nummern" im Theatersaal des ASV Dachau am vergangenen Montag sollte es nicht nur um biografische Daten gehen. "Ein Leben ist mehr als ein Bindestrich", sagt Klaus Schultz, ehemaliger Diakon der Versöhnungskirche. Es geht auch und vor allem darum, was hinter dem Bindestrich zwischen Geburts- und Todesdatum steckt: Seit 22 Jahren macht sich das Projekt des Trägerkreises Gedächtnisbuch zur Aufgabe, die Lebensgeschichten von Verfolgten des Nationalsozialismus zu erzählen. Das aufzudecken, was sie beschäftigte, wie ihr Leben aussah, und unter welchen Umständen sie Opfer des unmenschlichen Systems wurden. Nun wächst das Gedächtnisbuch um acht Biografien, die ehemalige Schülerinnen und Schüler des Max-Mannheimer-Gymnasiums Grafing und des Josef-Effner-Gymnasiums Dachau recherchiert haben.

Die ehemalige Schülerin Selina Becker erzählt, was Walter Beier in seinen knapp 81 Lebensjahren umtrieb: Sein Jurastudium in Breslau musste er wegen einer Gefängnisstrafe abbrechen. Regimekritische Äußerungen führten zu seiner Inhaftierung. Auf seine Haft folgte der Umzug nach Österreich, der ihn jedoch nicht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten bewahrte. Nach dem Anschluss Österreichs an das damalige Deutsche Reich kam Beier im August 1938 in das KZ Dachau, anschließend in das Konzentrationslager nach Flossenbürg. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam er frei, seine Haftjahre beschäftigten ihn jedoch ein Leben lang. Er haderte damit, sein Jurastudium nie abgeschlossen zu haben, und kämpfte in der Nachkriegszeit um Entschädigungszahlungen. Es ist eine von acht sorgfältig recherchierten Biografien, die die Gäste der Gedächtnisbuch-Präsentation an diesem Abend zu hören bekommen.

Dabei sei es nicht selbstverständlich gewesen, dass die Schülerinnen und Schüler die Quellenarbeit in Pandemiezeiten leisten konnten, so Sabine Gerhardus, Leiterin des Projekts "Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau". Archive mit Wartezeiten von bis zu acht Monaten hätten die Recherche der jungen Autorinnen und Autoren erheblich erschwert. Letztendlich erforderten "ungewöhnliche Zeiten ungewöhnliche Lösungen", berichtet Gerhardus auf der Bühne. Und so traten die Schüler in persönlichen Kontakt mit Archivaren, die ihnen den Zugang zu Informationen trotz der Pandemie ermöglichten.

So auch bei der Familie Meier, deren Geschichte Sarah Berghammer und Judith Fröhlich recherchiert haben. Im Januar 1945 verhafteten die Nationalsozialisten Wolfgang Meier Senior sowie seine Söhne Wolfgang Junior und Martin Meier und brachten sie in das Konzentrationslager Dachau. Die Familie hatte den Jesuitenpater Augustin Rösch auf ihrem Hof versteckt, den die Gestapo wegen des Attentats auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 suchte. Meier Senior starb im Februar 1945 im KZ Dachau, die Söhne überlebten die Zeit teils "extrem geschwächt", wie Bergammer berichtet. Doch über die drei Männer gebe es viel mehr zu erzählen als ihre Verfolgung während des NS-Regimes. Martin Meier etwa übersprang während seiner Schulzeit die fünfte Klasse, Wolfgang Meier Senior war ein gläubiger Katholik.

Sechs weitere Schicksale - die von August Baumann, Friedrich Volgger, Abraham Müller, Gerson Elias Feinberg, Alice Behr und Karl Otto Watzinger - stellen die Schüler am Montagabend vor. Darunter auch die von jüdischen Lehrerinnen und Lehrern, die in Kooperation mit dem "Projekt Erinnern" des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands entstanden sind. Mehr als 250 Lebensgeschichten sind so schon für das Gedächtnisbuch aufgearbeitet worden. "Ich hätte nicht gedacht, dass sich dieses Projekt so entwickeln würde", sagt Klaus Schultz.

Neben Ludwig Schmidinger, Seelsorger an der KZ-Gedenkstätte hat er den Trägerkreis nach langer Zeit der Mitarbeit kürzlich verlassen. Deshalb sind auch die personellen Veränderungen an diesem Abend Thema. Als "Motor für das Projekt" und "wichtige Säule" lobt Frank Schleicher, Diakon der Versöhnungskirche, die Arbeit der ehemaligen Mitglieder. Dabei hat diese laut Schultz teils unter schwierigen Bedingungen stattgefunden: "Der finanzielle Rahmen ist immer schlecht gewesen." Umso erfreuter sei er über die Sammlung an Biografien im Gedächtnisbuch, bei denen stets die Begegnung mit den Überlebenden und Angehörigen "ganz zentral war".

Das hat auch Selina Becker erlebt. Während der Recherche zu Walter Beiers Leben stand sie im engen Kontakt mit seiner Nichte. "Kein Weihnachten, keinen Geburtstag", sagt Becker, habe die Verwandte des NS-Verfolgten seitdem vergessen. Und so wird klar, dass die Gedächtnisarbeit auch Menschen aus unterschiedlichen Generationen zusammenbringt, wenn Selina Becker sagt: "Wir sind schon längst beim Du."

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SZ vom 28.10.2021
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