Projekt 70273:Geschichte aus dem Nähkästchen

Der Dachauer Verein ArtTextil hat 235 Stoffblöcke bestickt, um an die von den Nazis ermordeten Behinderten zu erinnern

Von Jacqueline Lang, Dachau

Ein Mann, schätzungsweise um die 30 Jahre alt. Sein dunkles Haar ist akkurat gescheitelt, der Schnauzer getrimmt. Er trägt Sakko und Krawatte. Das kleine schwarz-weißes Passbild ist auf ein weißes Stück Stoff genäht, zusammen mit zwei roten Kreuzen. Diese zwei Kreuze bedeuteten für den jungen Mann den Tod. Die Nationalsozialisten verwendeten das Symbol für jene, die sie für "lebensunwert" hielten. Allein in der Behinderteneinrichtung Schönbrunn wurden nachweislich 207 körperlich und geistig behinderte Menschen ermordet, die Dunkelziffer ist unbekannt. In jeder Patientenakten wurden von einem Arzt zuvor zwei rote Kreuze eingetragen. Von Januar 1940 bis August 1941 wurden die Morde unter dem Namen Aktion T4 (kurz für Tiergartenstraße 4 in Berlin) systematisch durchgeführt.

Die Amerikanerin Jeanne Hewell-Chambers, die selbst eine behinderte Schwägerin hat, will an die mindestens 70 273 durch die Aktion ermordeten Menschen mit dem gleichnamigen Projekt 70 273 erinnern. Die Idee ist es, für jeden der ermordeten Menschen, einen weißen Stoffblock mit zwei roten Kreuzen zu fertigen. Am Ende sollen alle Stoffteile zu einem riesigen Quilt zusammengenäht werden. "Ich kann die Geschichte nicht ändern - kann die Zeit nicht zurückdrehen - aber ich kann den Leben dieser 70 273 behinderten Menschen zumindest auf diese Weise gedenken", schreibt Hewell-Chambers auf ihrer Homepage über ihre Motivation. Mittlerweile sind schon weit mehr als die Hälfte aller Blöcke zusammengekommen, weltweit nähen viele Menschen für das Projekt. Auch der Dachauer Verein ArtTextil hat sich beteiligt. Auf insgesamt sieben Quilts mit 235 Blöcken haben sie Kreuze genäht, gestickt und geklöppelt. Die etwa 150 Teilnehmerinnen haben damit sogar mehr als die angestrebten 207 Stoffteile geschafft, die als Gedenken an die Opfer aus Schönnbrunn geplant waren.

Projekt 70273: Generaloberin Schwester M. Sirl im Gespräch mit zwei Mitgliedern des Vereins ArtTextil.

Generaloberin Schwester M. Sirl im Gespräch mit zwei Mitgliedern des Vereins ArtTextil.

(Foto: Toni Heigl)

Am Donnerstagabend wurden die Quilts erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Anwesend waren neben dem zweiten Bürgermeister Kai Kühnel (Bündnis für Dachau) auch Uta Lenk, die internationale Repräsentantin der Patchwork Gilde, und Generaloberin Benigna Schwester M. Sirl vom Kloster Schönbrunn. Sie habe "großen Respekt" vor den Frauen, die sich dieser Aufgabe gestellt hätten, sagt die Generaloberin in ihrer kurzen Rede. Durch die Quilts habe man den Menschen ein Ansehen gegeben, wie sie sagt. Denn dadurch, dass jedes Kreuz ganz individuell gefertigt worden sei, stehe es sinnbildlich für ein Individuum. "Ich denke, diese Zeit ist ein dunkler Teil unserer Geschichte. Dazu zu stehen ist wichtig", sagt sie. Annemarie Pattis vom Verein ArtTextil war es genau aus diesem Grund ein besonderes Anliegen, an dem Projekt mitzuwirken. Sie möchte ein positives Zeichen in die Welt senden, zeigen dass die Menschen in Stadt Dachau sich ihrer Verantwortung bewusst ist und gleichzeitig mehr ist als nur der Schauplatz für unsagbares Leid.

Projekt 70273: Jedes Kreuz sieht ein wenig anders aus, genauso wie auch die Menschen, für die sie symbolisch stehen.

Jedes Kreuz sieht ein wenig anders aus, genauso wie auch die Menschen, für die sie symbolisch stehen.

(Foto: Toni Heigl)

Uta Lenk, die das Projekt 70 273 stellvertretend in Deutschland betreut, ist s begeistert von dem Engagement der vielen Dachauerinnen. Immerhin habe sie sich selbst aufgrund der deutschen Geschichte anfangs gar nicht getraut, Hewell-Chambers ihre Hilfe bei dem Projekt überhaupt anzubieten. Im Nachhinein sei sie froh, sich doch dafür entschieden zu haben. "Ich kriege jedes Mal Gänsehaut, wenn ich daran denke, was passiert ist", sagt Lenk. Die Frauen nicken zustimmend. Geplant ist, das Projekt im kommenden Jahr fertigzustellen. Dann sollen das gesamte Werk ausgestellt werden, einzelne Stücke sollen danach auch weltweit zu sehen sein.

Zu sehen sind die sieben Dachauer Quilts noch diesen Samstag und Sonntag bei ArtTextil, Martin-Huber-Straße 27, jeweils von 15 bis 18 Uhr.

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