Süddeutsche Zeitung

Pogrom-Nacht:Eine Stimme der Trauer und Versöhnung

Ihre Botschaft zur Pogrom-Nacht wird gehört, obwohl die Zeitzeugin Henny Seidemann nicht an der Gedenkfeier teilnehmen kann.

Helmut Zeller

Pater Klaus Spiegel spricht die Frage an, die im Foyer des Dachauer Rathauses viele Besucher bewegt. Wie können wir die Erinnerung der Überlebenden des Naziterrors ohne Zeitzeugen angemessen tradieren? Der wichtigste Gast des Abends, Henny Seidemann, nämlich ist nicht gekommen. Die Münchnerin, am Sonntag wurde sie 89, war erkrankt und musste ihre Teilnahme an der Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November 1938 kurzfristig absagen. Auch die Veranstaltung im Karmel Heilig Blut am Sonntag musste ohne Zeitzeugin auskommen: Rachel Knobler war ebenfalls erkrankt. Am Dienstagabend behalfen sich die Veranstalter der Gedenkfeier mit einer Lesung aus dem Buch Henny Seidemanns: "Berlin - Barcelona - München. Eine Münchner Jüdin erzählt". Dem Text liegen Gespräche mit Henny Seidemann zugrunde. Sie spreche gleichsam zum Leser, als führe sie mit ihm einen Dialog, erklärte Pater Spiegel. Dass dies dann tatsächlich gelang, lag auch an der guten Stimme der Vorleserin Constanze Schmidinger. Die 23-jährige Studentin las klar und einfühlsam, aber ohne falsche Betroffenheit, und brachte so die Stimme der Zeitzeugin zum Klingen. Henny Seidemann, deren Vater in Auschwitz ermordet wurde und die mit ihrer Mutter nach Spanien kam und so überlebte, ist heute Ehrenvorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in München. Als 13-jähriges Mädchen erlitt sie Ausgrenzung und Diskriminierung, wenn sich etwa Lehrer mit dem Parteiabzeichen vor ihre Klasse stellten und schrien: "Hier stinkt's. Juden raus!" 1935 flüchtet die Familie über Genua nach Barcelona. In Spanien führt das Mädchen ein entbehrungsreiches Leben, arbeitet mit 13 zehn Stunden täglich in einer Knopffabrik. 1936 wird sie allein zurück geschickt, in der falschen Hoffnung, in Deutschland wäre sie sicherer als im Spanien des Bürgerkriegs. Gestapobeamte verhaften sie bei ihrer Ankunft im Münchner Hauptbahnhof. Vier Tage lang wird die 14-Jährige verhört, dann entlassen. 1938 gelingt ihr, von Angst gepeinigt, die Flucht nach Spanien. 1957 kehrt sie mit ihrer Mutter nach München zurück. Sie engagieren sich im Frauenverein Ruth, der kranken Shoah-Überlebenden hilft. Pater Spiegel von der Katholischen Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte Dachau verbindet die Lesung der Passagen mit biografischen und historischen Erläuterungen. Er kennt Henny Seidemann und beschreibt sie als einen Menschen, der ein lebendiges Interesse am anderen habe und für eine Versöhnung von Christentum und Judentum steht. Das Novemberpogrom hat Henny Seidemann nicht mehr erleben müssen, aber sie stand am 9. Juni 1938 weinend in der Herzog-Max-Straße in München, als die Nazis die Hauptsynagoge abrissen. "Viele Zuschauer klatschten und jubelten. Ich höre das schreckliche Geräusch der Abrissbirne noch heute."

In der Pogromnacht auf den 10. November 1938 wurden Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und geplündert. Zehntausende Juden wurden misshandelt, ermordet und in Konzentrationslager, auch nach Dachau, verschleppt. Die 14 jüdischen Bürger der Stadt wurden einen Tag davor vertrieben. Sechs davon wurden in Konzentrationslagern ermordet. Oberbürgermeister Peter Bürgel sagte, bevor er, gefolgt von den etwa 80 Besuchern, einen Kranz an der Gedenktafel am Rathaus niederlegte: "Die Überlebenden der Shoah sollen versichert sein, dass die Stadt Dachau sie und ihre Toten nicht vergessen hat." Die Wunde bleibt. Pater Spiegel hatte noch erzählt: "Wir hören die Stimme einer Überlebenden, die um ihre Verwandten allein trauert, alle sind in Auschwitz ermordet worden."

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SZ vom 10.11.2011
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