Plakataktion der IJB:Peter Perels Weg in die Freiheit

"Für eine Zeit Dachauer..." - die Plakataktion des Fördervereins für Internationale Jugendbegegnung erinnert an den ehemaligen Dachau-Häftling. Als 14-Jähriger wird er aus einem ukrainischen Dorf zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Er überlebt KZ und Todesmarsch

Von Irina Grinkevich, Dachau

"Wie viel Zeit habe ich?", fragt Peter Perel zu Beginn jedes Zeitzeugengesprächs bei der Internationalen Jugendbegegnung Dachau. Seit fast zwei Jahrzehnten kommt er jeden Sommer nach Dachau, um seine Geschichte mit den Jugendlichen aus der ganzen Welt zu teilen. Als er die Antwort erhält, nimmt er seine Armbanduhr ab und legt sie vor sich auf den Tisch - so hat er im Blick, wie viel Zeit bleibt. Dann fragt er in die Runde, aus welchen Ländern die Jugendlichen kommen. Da Perel seine Zeitzeugengespräche immer auf Russisch mit Übersetzung hält, ist die Zahl der Teilnehmenden aus den ehemaligen sowjetischen Ländern vergleichsweise hoch. Das freut Perel immer, er grüßt alle herzlich auf Russisch und bricht so schnell das Eis.

Sein Gesicht ist im Dezember im ganzen Stadtgebiet von Dachau sichtbar - auf Plakaten an Wänden, Litfaßsäulen und in öffentlichen Gebäuden. Für seine Aktion "Für eine Zeit Dachauer ..." hat der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau Peter Perel ausgewählt. Er war vom 2. Februar bis 26. April 1945 im Konzentrationslager gefangen. Insgesamt sind es zwölf Plakate, die jedes Jahr ausgehängt werden, um an die Naziopfer zu erinnern.

Peter Perel erzählt viele Anekdoten und liebevolle Details von seiner glücklichen Kindheit im jüdischen Dorf Oktjabrfeld nahe Saporischschja in der Ukraine, wo er am 9. September 1928 geboren worden ist. Die Eltern hatten gute Arbeitsplätze - der Vater leitete eine Viehhandelsfirma, die Mutter war Angestellte in einer Bank. Viele Verwandte arbeiteten in der Stadt und unterstützen sie - als Kind hatte Peter alles, was er sich wünschen konnte. Doch am 22. Juni 1941 überzog Deutschland die Sowjetunion mit einem Vernichtungskrieg - das glückliche Leben der Familie Perel sowie aller Juden der Region und aller besetzten Ländern war vorbei.

Am 13. Oktober 1941 wurde Oktjabrfeld besetzt und die Bewohner zur Zwangsarbeit für die deutschen Besatzer verpflichtet. Etwa einen Monat später beobachtet die Familie Perel bei der Feldarbeit, wie Juden aus dem Nachbardorf zur Vernichtung verschleppt werden. Am selben Abend entscheidet sie sich für die Flucht. Peter verlässt das Dorf mit einem Freund namens Jakow in die eine Richtung, seine Mutter flieht mit dem kleinen Bruder in die andere. Die Mutter versteckt den kleinen Bruder bei Bekannten, aber er weint die ganze Zeit, und die Bekannten bringen ihn ins Dorf zurück zu den Großeltern. Sie und alle fünf Geschwister von Peter werden am nächsten Tag, am 20. November 1941 ermordet.

Peter Perel mit Retterin Antje Roser

Peter Perel mit seiner inzwischen verstorbenen Lebensretterin Rosa Baier, die er nach seinem Umzug nach Deutschland jedes Jahr besucht hat.

(Foto: Antje Roser/oh)

Jakow und Peter kommen in Welykomychajliwka unter - einem Dorf im Kreis Dnipropetrowsk. Der Dorfälteste, der von den deutschen Besatzern bestimmt worden ist, erhält den Befehl, eine Gruppe für die Deportation zur Zwangsarbeit zusammenzustellen. Er bietet Jakow an, sich um Peter zu kümmern, wenn Jakow sich freiwillig zum Transport melden würde. So blieb Peter unter falschen Namen bei dieser Familie bis November 1942. Im Dezember 1942 dann der Befehl, dass alle jungen Leute von 15 Jahren als Arbeiter nach Deutschland geschickt werden sollen. Ein neuer Dorfältester meldet Peter als 15-Jährigen obwohl dieser erst 14 Jahre alt ist, um die Deportation des eigenen Sohnes zu verhindern.

An dieser Stelle seiner Erzählung wird Peter Perel immer sehr aufgeregt. "Seitdem steht in allen meinen Papieren das Geburtsjahr 1927. Aber das müsst ihr euch merken - ich bin in der Wirklichkeit noch ein ganzes Jahr jünger! Ich bin noch kein so alter Mann!" Dann lacht der inzwischen mehr als 90 Jahre alte Zeitzeuge und berichtet weiter.

Am 17. Dezember 1942 erreicht sein Zug den Münchner Ostbahnhof und sein Leidensweg über verschiedene Zwangsarbeitsstellen beginnt. Er wird im Bau bei "Sager und Wörner" sowie anderen Firmen eingesetzt, später kommt er in eine Schlosserei, wo er Treppengeländer anfertigen muss. Dort lernt er den Schlossermeister Josef Baier kennen - die entscheidende Begegnung für sein weiteres Schicksal. Josef Baier bittet Peter, der inzwischen recht gut Deutsch spricht, ihm beim Bau eines Bunkers für seine Familie zu helfen. Trotz des strengen Kontaktverbots fährt Peter Perel heimlich mit zwei anderen an Wochenenden zu den Baiers, die in Berg am Laim leben, und hilft beim Bau des Luftschutzbunkers. Mit der Zeit entsteht ein freundschaftliches Verhältnis zur Familie Baier.

Am 31. Januar 1945, die Hoffnung auf das Kriegsende wächst, nimmt die Gestapo Peter Perel plötzlich fest. Warum, das weiß er bis heute nicht genau. Die Gestapomänner sagen ihm nichts. Er kann nur vermuten, dass jemand den Nazis gemeldet hat, dass er immer wieder das Zwangsarbeiterlager verlässt und das als Fluchtversuch gewertet worden ist. Am 3. Februar wird Peter Perel ins Konzentrationslager Dachau gebracht, er bekommt die Häftlingsnummer 140485.

Bei der Aufnahmeprozedur wird ihm quer über den Kopf ein Streifen Haare abrasiert - "der Weg Moskau-Berlin", wie ihn sowjetische Häftlinge, auch Peter nennen. Diese Art "Frisur" kennzeichnet die sowjetischen Häftlinge. Der Jugendliche wird für Arbeit am Münchner Hauptbahnhof eingeteilt. Sein Kommando räumt täglich die Trümmer nach den Bombenangriffen weg und baut zerstörte Gleisschienen wieder auf.

Man kann Peter ansehen, wie wichtig es ihm ist, dass die Schüler und Schülerinnen, denen er erzählt, an dieser Stelle besonders konzentriert zuhören - denn jetzt geht es darum, wie er seinem Leiden ein Ende gesetzt hat, um seine Befreiung. Am 26. April 1945 versammelt die SS Tausende Häftlinge auf dem Appellplatz des Lagers, unter ihnen Peter. Seit Tagen kursieren im Lager Gerüchte, wonach die SS einen Abtransport zur Vernichtung der Häftlinge plante. Deshalb hatten Gefangene sich, so weit es möglich war, vorher heimlich mit Zivilkleidung aus dem Lager versorgt, die sie unter der Häftlingskleidung tragen. Auch Peter hat es an diesem Tag so gemacht. Gegen Mittag verlässt er mit einer Kolonne das Lager - zu Fuß in südliche Richtung.

Svetlana_PeterPerel_AntjeRoser

Svetlana begleitet ihren Vater Peter Perel zu Zeitgesprächen bei der Internationalen Jugendbegegnung.

(Foto: Antje Roser/oh)

Auf diesem Todesmarsch finden viele Häftlinge den Tod, doch Peter Perel hat großes Glück. Die SS hatte den falschen Weg eingeschlagen, und die Kolonne musste umdrehen. Plötzlich war Peter Perel nicht mehr am Anfang, sondern am Ende der Kolonne, während alle SS-Männer mit ihren Hunden vorne waren. Diese Gelegenheit nutzten er und einige weitere Häftlinge sofort, sie sprangen ins Gebüsch am Rande der Straße und versteckten sich dort, "bis wir das Klappern der Holzschuhe nicht mehr hörten".

Stundenlang wartet Peter Perel, versteckt in einem Gebüsch, frierend und hungernd, dann wagt er sich hinaus. Er wirft die Häftlingskleidung weg und schlägt sich zu einer Bahnlinie durch. In seiner Zivilkleidung wird er nicht als KZ-Häftling erkannt und kann mit der Bahn nach Berg am Laim kommen, wo die einzige Familie wohnt, die er um Hilfe bitten kann: die Familie Baier. Josef Baier ist zwar im Herbst 1943 zur Wehrmacht eingezogen worden, aber Josefs Frau Rosa lebt noch im Haus. Sie ist bereit, Peter verstecken.

Bei den Baiers bleibt Peter Perel bis zum 1. Mai 1945, bis sie amerikanische Soldaten auf den Straßen sehen, die inzwischen, am 29. April, die noch ungefähr 30 000 Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau befreit und München eingenommen haben. An diesem Tag radelt er zurück in das Zwangsarbeiterlager und kommt mit Geschenken zurück: Für seine Rettung bedankt er sich bei Rosa Baier mit neuer Bettwäsche, Wurst und Butter.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Peter Perel zurück in die Ukraine, in sein Heimatdorf, wo er seine Eltern wieder traf - als einziges ihrer Kinder, das den Krieg und die Shoah überlebt hat. Er konnte studieren, wurde Ingenieur und leitete eine Abteilung in einem der größten Automobilwerke der Sowjetunion in Saporischschja.

Im Jahr 2000 zog er mit seiner Familie nach Deutschland und lebt heute in Freiburg. Als er 2002 als Zeitzeuge nach Dachau eingeladen war, besuchte er die Familie Baier. Zum ersten Mal nach 57 Jahre traf er seine Retterin Rosa wieder. Bis zu ihrem Tod hielt die Freundschaft zwischen Rosa und ihrem "Russen-Peter" an. Er besuchte sie jedes Jahr.

Seit vielen Jahren besucht Peter Perel als Ehrengast auch die Internationale Jugendbegegnung in Dachau, in letzter Zeit in Begleitung seiner Tochter Swetlana. "Ich habe mich selbst befreit", betont er immer vor den Jugendlichen, da ihm der Gedanke der eigenen Verantwortung für das eigene Schicksal sehr wichtig ist. Aber die Zeitzeugengespräche fallen ihm so leicht nicht. Noch viele Wochen nach jeder Internationalen Jugendbegegnung, sagt er, werde er von den schrecklichen Erinnerungen verfolgt und könne kaum schlafen. Doch er fühlt sich dazu verpflichtet, seine Geschichte für all diejenigen zu erzählen, die sie nicht mehr selbst erzählen können. Ihre Stimme will er sein.

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