Süddeutsche Zeitung

Pflegenotstand:Demonstranten begrüßen Jens Spahn

In Indersdorf wird der Bundesgesundheitsminister auf Wahlkampftour mit dem Pflegenotstand am Amperklinikum konfrontiert.

Von Thomas Radlmaier, Markt Indersdorf

Als Jens Spahn (CDU) um kurz vor Sechs aus dem schwarzen Bus mit Berliner Kennzeichen steigt, warten zwei Demonstranten auf dem Parkplatz des Senterra Pflegezentrums in Markt Indersdorf. Sie haben sich Pflegeoutfits samt Mundkappen übergestreift und halten dem Bundesgesundheitsminister Plakate entgegen: "Stoppt den Pflegenotstand" und "Mehr Pflege im Dachauer Helios Klinikum", steht darauf. Bevor Spahn anwesende CSU-Politiker wie den Landtagsabgeordneten Bernhard Seidenath und die Bundespolitikerin Katrin Staffler begrüßt, geht er auf die Demonstranten zu und fragt: "Kommen Sie mit rein?"

Der CDU-Politiker Spahn ist den ganzen Dienstag über in Bayern auf Wahlkampftour für die CSU-Schwesterpartei gewesen. Nun nimmt er an einem "offenen Fachgespräch" im Indersdorfer Altenheim teil. Etwa 80 Besucher, darunter Politiker, Ärzte, Pfleger, Senioren und die Helios-Geschäftsführung, aber auch Mitglieder der "Bürgerinitiative für mehr Personal in der Pflege - Dachau" sind gekommen. Spahn will den Menschen zuhören, weniger selber reden. Er wolle das Vertrauen der Leute in das Gesundheitssystem zurückgewinnen, "den Dauerfrust wegbekommen", wird er später sagen. Wie schwierig das ist, zeigt sich an diesem Abend in Markt Indersdorf. Denn hier scheint das Vertrauen besonders schwer erschüttert zu sein. Das merkt man an der Diskussion, die mit dem Verlauf hitziger wird. Und immer wieder kommt man auf ein Thema zurück: das Helios Amper-Klinikum in Dachau.

Der Klinikgeschäftsführer verteidigt Helios

Der erste, der sich aus dem Publikum zu Wort meldet, ist Christiaan Boissevain von der Bürgerinitiative. Die Gruppe kämpft für mehr Personal im Dachauer Krankenhaus und gegen die aus ihrer Sicht unzumutbaren Zustände für Pfleger. Die Mitglieder werfen Helios vor, Personalschlüssel nicht einzuhalten und gleichzeitig so viele Patienten wie möglich aufzunehmen, um Profit zu machen. Boissevain sagt: "Gesundheit ist keine Ware." Er will von Spahn wissen, was dieser von der Privatisierungspolitik im Gesundheitsbereich halte?

Wenig später ergreift Stefan Reifberger, ebenfalls von der Bürgerinitiative, das Mikrofon und sagt: "Im Helios-Klinikum fehlen 70 Pflegekräfte." Er fordert einen verpflichtenden Personalschlüssel und "das System wieder in die öffentliche Hand zu geben". Viele Besucher klatschen.

Der Klinikgeschäftsführer Gerd Koslowski verteidigt Helios. "Ja, wir haben Probleme wie jedes andere Krankenhaus auch", sagt er. Aber es sei nicht so schlimm wie von den Vorrednern behauptet. Man sei dran, die Krankheitsquote zu verbessern. Er macht auf den Fachkräftemangel aufmerksam. "Wir bekommen die Pflegekräfte einfach nicht." Um Betten zu halten, müsse man Hilfskräfte einstellen. Er plädiert dafür, die Verweildauer der Patienten zu verringern, "damit wir weniger Betten betreiben".

Später weist Landrat Stefan Löwl (CSU) den Vorwurf zurück, Helios wirtschafte in die eigne Tasche. Auch der Landkreis Dachau trägt Anteile am Krankenhaus. "Es gab null Cent Ausschüttung. Weder Helios noch der Landkreis haben etwas bekommen. Die Gewinne sind alle reinvestiert worden."

Jens Spahn spricht Klartext

Spahn hört zu, notiert sich Stichpunkte und versucht auf alle Fragen einzugehen. Er erzählt, überall wo er hinkomme, würden Pflegekräfte mehr Personal fordern und gleichzeitig würden sich die Geschäftsleiter über zu starre Personalvorgaben beschweren. Das gehe nicht zusammen. Er sagt, man mache es sich zu einfach, wenn man sage: "Die Privaten zahlen schlecht." Gleichzeitig dürfe die Rendite nicht zu Lasten der Pfleger gehen. Er spricht von einem "Spagat", den man bewältigen müsse.

Spahns Spagat sieht so aus: Ende August ist der Bundesgesundheitsminister mit einem Vorstoß in die Offensive gegangen, "zum Schutz der Pfleger und Patienten", wie er damals sagte. Nachdem sich Vertreter der deutschen Krankenhäuser und Krankenkassen nicht über eine Mindestausstattung für pflegeintensive Klinikbereiche einigen konnten, legte Spahn selbst Untergrenzen für Krankenhauspersonal fest. Diese sollen ab dem 1. Januar für vier besonders pflegeintensive Krankenhausbereiche gelten: auf Intensivstationen sowie in den Abteilungen Geriatrie, Kardiologie und Unfallchirurgie. Auf der Intensivstation etwa darf künftig eine Pflegekraft in der Tagschicht unter der Woche höchstens zwei Patienten betreuen, in der Nachtschicht drei Patienten.

In Indersdorf redet Spahn Klartext und betont mehrmals: "Die Personaluntergrenzen werden kommen. Aber es hat Konsequenzen. Möglicherweise müssen Betten abgebaut werden." Er könne die Krankenpfleger nicht herzaubern. "Selbst wenn ich morgen das Fünffache zahle, haben wir nicht mehr Pflegekräfte." Stattdessen brauche es viele "kleine und große Maßnahmen". Eine Maßnahme ist das Sofortprogramm der Bundesregierung, das den Pflegenotstand lindern soll. Demnach sollen 13 000 Stellen in der Pflege entstehen.

Nach fast eineinhalb Stunden muss Spahn dann los. Er ist 30 Minuten länger geblieben als geplant. Nicht alle Fragen zum Dachauer Krankenhaus sind geklärt. Spahns Vorschlag: "Eine Info-Veranstaltung rund um Helios."

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Quelle:
SZ vom 20.09.2018
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