Dachau:Pflegekräfte an den Grenzen ihrer Belastbarkeit

Pflegeheim in NRW

Die Menschen werden älter, sie leben länger, auch dank einer immer besser werdenden Medizin - in der Pflege hingegen wurde gespart.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Das Dachauer Helios-Klinikum ist ein exemplarisches Beispiel für die verfehlte Krankenhauspolitik in Deutschland. Einige Probleme sind aber hausgemacht.

Von Wolfgang Eitler, Dachau

Der Kreistag will sich in einer Anhörung durch die Geschäftsführung der Helios Amper-Klinikum AG darlegen lassen, wie es um die Pflege vor allem am Dachauer Klinikum bestellt ist. Den Anstoß dazu gab der Sprecher aller 17 Bürgermeister des Landkreises, Stefan Kolbe (CSU), der sich jüngst mit den Beschwerden seiner eigenen Mutter nach einem Aufenthalt an der Klinik konfrontiert sah. Nun könnte man sich darüber wundern, dass ein politisches Gremium sich mit einem privat geführten Unternehmen befasst. Allerdings hält der Landkreis Dachau noch 5,1 Prozent der Anteile. Vor allem ist der Kreistag als kommunalpolitisches Organ gesetzlich für die medizinische Grundversorgung zuständig. Wie aber konnte es zu den Klagen und Beschwerden von Patienten kommen? Dazu ein Klärungsversuch mittels der für die Diskussion zentralen Begriffe.

Ausbeutung

Geschickterweise verzichtet das Deutsche Sozialgesetzbuch darauf, die Qualität der Pflege ausdrücklich und präzise zu formulieren. Da heißt es nur, dass sie "ausreichend", "zweckmäßig" und "wirtschaftlich" zu sein habe. Nicht aber gut oder gar sehr gut. Im Jahr 1995 wurde der bis dahin gültige Personalpflegeschlüssel bundesweit abgeschafft, der die Qualität je nach medizinischen Erfordernissen in ein Punktesystem umwandelte. Die Bayerische Krankenhausgesellschaft, bei der übrigens die Helios Kliniken GmbH Mitglied ist, hätte diese Berechnungsform gerne zurück. Die dortige Pflegeexpertin Maria Schweiberger sagt: "Die war eine super Sache." Aber sie berichtet, dass die Mehrheit der Arbeitgeber und auch der Politik im Bund dieses Modell nicht mehr wollte. Der Grund: Damals habe es geheißen: "Ach, da brauchen wir viel zu viele Pflegekräfte."

Auch der Betriebsratsvorsitzende Claus-Dieter Möbs der Helios Amper-Klinikum Dachau AG fordert dieses System zurück. Dann wären klar kommunizierbare Richtwerte vorhanden, an denen sich potenzielle Patienten auch orientieren könnten, wenn sie nach dem Krankenhaus ihrer Wahl suchten. Dieses System ist durch die sogenannten Fallpauschalen ersetzt worden. Jeder medizinische Eingriff wird eigens nach einem speziellen Muster abgerechnet.

Überlastung

Die Folgen hat das Pflegewissenschaftliche Institut der Katholischen Universität Nordrhein-Westfalen im Detail untersucht. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung verfasst seit mehreren Jahren "Pflegethermometer". Das Ergebnis sieht so aus: Seit 1995 ist die Zahl der Ärzte um 40,2 Prozent gestiegen, während die Vollzeitstellen in der Pflege um 11,4 Prozent abgenommen haben. Dieser Rückgang ist durch eine enorme Arbeitsverdichtung für das Pflegepersonal verursacht worden, auch um Finanzierungslücken bei den Kliniken zu decken. Die Schlussfolgerung des pflegewissenschaftlichen Instituts lautet: "Hätte man die Pflege im Krankenhaus so wie die Ärzteschaft entwickelt, dann würden heute zusätzliche 73 000 Vollzeitstellen für Pflegekräfte in den allgemeinen Krankenhäusern zur Verfügung stehen. Die Personalkosten für die Pflege würden um rund 7,4 Milliarden Euro höher liegen und eine Pflegefachkraft würde rund 20 Prozent mehr verdienen."

Diese bundesweite Konstellation lässt sich auf Dachau übertragen: Ohne die Fallpauschalen wäre es vermutlich niemals gelungen, die ehemals kommunalen Kliniken in Dachau und Markt Indersdorf in eine profitable Aktiengesellschaft umzuwandeln. Wie die bundesweiten Statistiken nahelegen, ging der Aufschwung auf Kosten fast ausschließlich des Pflegepersonals. Bis zum heutigen Tag negiert der Kreistag diese Basis des monetären Erfolgs.

Gefährliche Pflege

In den vergangenen zwanzig Jahren protestierte das Personal regelmäßig gegen seine Arbeitsbedingungen vor allem am Dachauer Klinikum. Indersdorf wurde schnell in eine geriatrische Rehabilitation umgebaut. Die Gewerkschaft Verdi schaltete sich ein und warnte vor einer gefährlichen Pflege. Die ist nach der gängigen Definition dann gegeben, wenn eine Pflegekraft zu viele Tätigkeiten ausüben muss, die fachfremd sind, die aber Kosten sparen helfen. Dazu zählt beispielsweise das Putzen oder das Bettenmachen überhaupt. Dazu modellhafte Schilderungen von Pflegeexpertin Schweiberger: In der Nacht muss eine Toilette geputzt werden. Wenn eine Krankenschwester diese Aufgabe erfüllt, hat sie weniger Zeit für ihre eigentliche Aufgabe. Oder: Ein Patient stirbt in der Nacht. Es ist keine Hilfskraft anwesend, welche das Zimmer reinigt und das Bett für einen zur Aufnahme bereiten Patienten vorbereitet. Dann muss eine Pflegekraft diese Aufgabe übernehmen.

Die Klagen

In diese Richtung zielen die Klagen der vergangenen Wochen im Landkreis. Sie gewannen an politischem Gewicht und an Brisanz, weil sich der Sprecher der Bürgermeister, Stefan Kolbe (CSU), aufgrund eigener Erfahrungen im Familienkreis, eingeschaltet hatte und eine öffentliche Debatte im Dachauer Kreistag als politisches Vertretungsorgan des Landkreises forderte. Sie findet an diesem Freitag, 21. Oktober, 8.30 Uhr, im großen Sitzungssaal statt. Nachdem Kolbe öffentlich Stellung bezog, konnte sich die Helios-Geschäftsführung um Christoph Engelbrecht der Debatte nicht mehr entziehen. Die Brennpunkte der Klagen waren: fehlende Sauberkeit an erster Stelle, schlechter bis nicht vorhandener Service beispielsweise bei der Essensausgabe, fehlende Zeit zur Kommunikation mit den Patienten und überlastete, teils erschöpft wirkende Pflegekräfte. Die taten den Patienten schon leid.

Die Helios-Vorschläge

Geschäftsführer Engelbrecht reagierte mit einem Maßnahmenkatalog, der darauf hinausläuft, die Sauberkeit zu verbessern. Die noch unter dem Vorbesitzer, der Rhönklinikum AG, geschaffenen Untergesellschaften für Hilfstätigkeiten, die letztlich dazu dienten, die Abschreibung profitabel zu gestalten, werden abgeschafft. Gleichzeitig werden mehrere Kontrollsysteme aufgebaut, welche die Sauberkeit der Zimmer garantieren sollen, einschließlich eines besseren Services. Außerdem sollen Pflegekräfte von fachfremden Tätigkeiten entlastet werden. Der ärztliche Direktor des Dachauer Klinikums, Chefarzt Horst-Günter Rau sagt: "Eine Entlastung des Berufsstands Pflege merken die Patienten sofort. Ich hoffe, dass die Zufriedenheit steigt." Er meint die der Patienten. Im Umkehrschluss bedeutet die Zusicherung, dass das Pflegepersonal sich mehr auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren kann als bisher, dass eine gefährliche Pflege am Dachauer Klinikum zumindest in Kauf genommen wurde.

Helios-Daten

Solchen Vermutungen, auch dem Verdacht des Pflegenotstands begegnet Helios mit eigenen Statistiken. Geschäftsführer Engelbrecht verweist auf "Referenzwerte" beispielsweise des deutschen Krankenhaus-Instituts in Düsseldorf, das beispielsweise ein Seminar dafür anbietet, wie man "Arbeitnehmerüberlassungen" in Gesellschaften organisiert, eine Strategie, mit der Helios nach eigenen Angaben innerhalb der Dachauer Aktiengesellschaft aufräumen will.

Ein zentraler Referenzwert sind die Belegungstage pro Pflegekraft pro Jahr. 550 hält das Institut für erlaubt. Helios rechnet 420 für Dachau vor. 220 Pflegekräfte empfiehlt das Institut für Dachau. Helios-Geschäftsführer Engelbrecht meldet einen Personalstand von 224 Kräften. Die Gewerkschaft Verdi hat in ihrem Faktencheck in Bayern herausgebracht, dass an deutschen Kliniken in der Nacht 25 Patienten auf eine Pflegekraft kommen, in Dachau sind es laut Engelbrecht 22. Also doch alles gut? Ist die ganze Debatte um den Ärger von Patienten, wie der ärztliche Direktor Rau sagt, einer temporären Überlastung des gesamten Personals geschuldet, die einher ging mit einem hohen Krankenstand? Allerdings zeigen Statistiken von Verdi und auch der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dass der Krankenstand wegen der Überalterung des Pflegepersonals bundesweit hoch ist.

Augenwischerei

Der Betriebsratsvorsitzende Claus-Dieter Möbs von Helios in Dachau betrachtet die Vorschläge zur Reorganisation der Pflege am Klinikum nüchtern. Denn was wird in den nächsten Monaten tatsächlich passieren? Möbs: "Eine Hilfskraft liefert das Essen, die andere putzt, und wenn eine ausfällt, muss die Pflege wieder ran." Nun versprach Helios im Jahr 2014, als es die Mehrheit der Amper-Klinikum AG vom Rhönkonzern übernahm, dass es dem Unternehmen mit Firmensitz gelingen wird, das Klinikum zum Vorteil von Patienten und Belegschaft optimal zu strukturieren. Die Helios GmbH präsentierte sich als Managerin klar strukturierter Organisationsmodelle, die angeblich einmalig in Deutschland und nachweislich erfolgreich seien.

Die Klagen aus der Bevölkerung konterkarieren den Anspruch. Dazu passen auch die Ergebnisse der Betriebsratsgespräche mit Pflegekräften nicht. Möbs berichtet: "Sie arbeiten am Limit." Mitarbeiter erzählen, dass sie eigentlich stolz auf ihren Beruf sind und auf ihren Ethos, dass sie aber bald nicht mehr können. Sie erfreuen sich an jedem Lob und ertragen Kritik am Klinikum deswegen so schwer, weil sie wüssten, wie es besser geht. Deshalb fordert Möbs die Geschäftsführung auf, mit der Belegschaft zu reden, ihnen zuzuhören und sich nicht auf Statistiken zu verlassen. Dann würde sehr schnell eine ganz andere, qualitative Diskussion darüber beginnen, worin eine gute Pflege besteht und nicht bloß die vom Sozialgesetzbuch vorgeschriebene "ausreichende", "zweckmäßige" und "wirtschaftliche". Seit einigen Jahren treffen sich Pflegekräfte in Deutschland zu der Aktion "Pflege am Boden". Sie legen sich stumm vor Kliniken, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Vorsitzender Guy Hofmann, ein gebürtiger Münchner, sagt der SZ: "Alle Erkenntnisse liegen auf dem Tisch. Die Verantwortlichen müssen nur handeln." Die Organisation wird von Gewerkschaften und Sozialverbänden unterstützt.

Die Zukunft

Folgt man den Studien beispielsweise des Deutschen Instituts zur Pflegewissenschaft, dann steigen die Anforderungen an die Pflege erheblich. Sie sind jetzt schon hoch. Die Gründe sind der medizinische Fortschritt und das steigende Alter der Patienten. Das sagt auch der ärztliche Direktor Rau. Ein Beispiel: Am Klinikum in Dachau müssen zusehends an Demenz Erkrankte behandelt werden. Die Patienten werden nicht fixiert, weil es an einem Haus wie Dachau auch rechtlich nicht erlaubt ist. Möbs: "Da muss sich eine Pflegekraft ständig kümmern." Deshalb braucht es seiner Ansicht nach dringend mehr Personal, mehr als die 235 Vollzeitkräfte, die Helios in Dachau anvisiert und als Lichtzahl bewirbt. Zudem weitet Helios die medizinischen Angebote aus, ohne dass klar ist, woher die dazu nötigen Pflegekräfte kommen sollen. Die Frühgeriatrie ist beschlossen, die Telemetrie ist schon da, und zurzeit entsteht ein neues Strahlungszentrum.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: