Süddeutsche Zeitung

Oświęcim/Dachau:Ein Moment der Nähe

Dachaus Oberbürgermeister Hartmann und Landrat Löwl gehen getrennte Wege - aber im Gedenken an die Opfer des NS-Konzentrationslagers Auschwitz und für ein Foto mit Bundespräsident Gauck sind sie vereint.

Von Gregor Schiegl

Ein Schwarm Tauben schwirrt über den Platz, die polnischen Soldaten stehen stramm. Im Ortszentrum von Oświęcim wird es jetzt offiziell: Landrat Stefan Löwl (CSU) legt einen Kranz am Mahnmal des unbekannten Soldaten nieder, einen richtig großen Kranz, den man mit zwei Händen halten muss. Neben ihm steht eine Phalanx aus acht Männern und Frauen: die Spitzen der Kreistagsfraktionen von CSU (Wolfgang Offenbeck), SPD (Marianne Klaffki), den beiden Gruppierungen der Freien Wähler (Michael Reindl und Sebastian Leiß) sowie den Grünen (Marese Hoffmann) und der ÖDP (Mechthild Hofner), außerdem die Verwaltungsbeamten Wolfgang Reichelt und Alexander Krug aus dem Dachauer Landratsamt. Einige Reihen weiter hinten, versteckt zwischen weiteren Abordnungen aus Deutschland, Italien, Frankreich und der Ukraine, steht Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD). Eine Ein-Mann-Delegation, er hält nur ein kleines Gesteck in der Hand.

Hartmann, Deutschlands jüngster Oberbürgermeister, aber das zählt jetzt überhaupt nicht, legt die Blumen ab. Er tritt zurück, den Kopf gesenkt, das Kinn bis zur Brust. Er wirkt einsam in diesem Moment, aber vielleicht beeindruckt gerade deshalb seine Demutsgeste, die von jedem Pathos frei ist. Dagegen der Auftritt von Landrat Löwl: Er tritt mit seiner Delegation wie eine geschlossene Formation vor das Mahnmal und legt mit beiden Händen den schlecht zu fassenden Kranz vorsichtig nieder. Hartmann ist allein gekommen. Er wollte nicht in einem Hotel in Krakau absteigen und wohl auch nicht zu der Landkreisdelegation dazustoßen. In den nächsten drei Tagen haben er und der Landrat kaum Kontakt, begrüßen sich aber freundschaftlich: "Hallo Stefan" - "Hallo Flo".

Es ist etwas verwirrend, dass Hartmann und Löwl nicht derselben Delegation angehören. Immer wieder kommen die polnischen Organisatoren und Gastgeber ins Schleudern, weil der eine Dachauer und der andere Dachauer unterschiedliche Programmabläufe haben. Beide wurden von ihren jeweiligen Amtskollegen eingeladen, beide sind hier, um Kontakte zu knüpfen, Verbindungen zu vertiefen. "Wenn man sich versteht und kennt, ist vieles einfacher." Bürgermeister Janusz Chwierut - der offizielle Amtstitel lautet "Präsident der Stadt" - spricht zwar kein Deutsch, Hartmann nicht Polnisch, aber beide kommen mit ihrem brauchbaren Englisch zurecht. Wenn der Wille zur Verständigung da ist, reicht das völlig aus. Nach dem ersten persönlichen Kontakt am Montag hat Hartmann seinen Kollegen schon zum Gegenbesuch nach Dachau eingeladen, aber das wird nicht so einfach werden. Chwierut ist ein gefragter Mann, in der vergangenen Woche hielt er eine Rede in Düsseldorf vor dem Landtag.

Der Marktplatz von Oświęcim ist ein weitläufiger Platz, eingerahmt von alten Bürgerhäusern. Wenn man nach unten schaut durch die im Boden eingelassenen Plexiglasplatten, kann man die Fundamente mittelalterlicher Bauwerke erkennen. Ein Stadt mit langer Geschichte, so wie Dachau, mit ebenfalls etwa 40 000 Einwohnern, die im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, um Platz für Deutsche zu schaffen, darunter Wachpersonal des Konzentrationslagers. Dachau und Oświęcim, beide Städte führen eine Existenz im Paradox: einerseits ein moderner Ort zu sein, in dem Menschen leben, arbeiten, und, ja, sich auch amüsieren. Andererseits sind sie Orte, deren Name auf ewig mit den Verbrechen der Nationalsozialisten verbunden sein werden. Mit einem entscheidenden Unterschied: Oświęcim war von den Deutschen wie halb Polen besetzt. Die Stadt war ein Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungswahns.

Wie kriegt man das zusammen? "Der Name Auschwitz haftet der Stadt Oświęcim viel mehr an als Dachau bei unserer Stadt", sagt Hartmann. Viele, vor allem jüngere Menschen zögen wegen des Namens aus Oświęcim fort. Bauprojekte seien nur schwer umsetzbar, weil jedes Mal überprüft werden müsse, ob nicht an dieser Stelle irgendwann einmal Häftlinge zu Tode gekommen sein könnten. Dazu müssten viele Stellen eingeschaltet werden bis hin zur Unesco. " Die Stadt hat massive Probleme."

Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, die Vergangenheit zu negieren oder zu relativieren, weder hier noch dort. In Dachau eröffneten die Nationalsozialisten 1933 eines der ersten Konzentrationslager. Nach dessen Vorbild entstanden immer mehr Lager in Deutschland und den eroberten Gebieten. Das System wurde erweitert und perfektioniert. Es mündete schließlich in die Vernichtungslager wie Auschwitz: Mehr als 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet, darunter mehr als 900 000 Juden aus ganz Europa, Sinti und Roma, Polen und andere politische Gefangene sowie Soldaten der Roten Armee. Ein Menschheitsverbrechen ohne Beispiel. Viele Opfer kamen aus auch Oświęcim. Die Juden waren seit dem 15. Jahrhundert im Ort in der Mehrheit. Heute gibt es nur noch eine kleine Synagoge, aber das jüdische Leben ist hier verschwunden.

Wenige Kilometer weiter treffen sich am Nachmittag Regierungschefs, Staatspräsidenten und Könige zur Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz. Auch Steven Spielberg ist dabei. Roman Kent, ein Überlebender, mahnt die Politiker, für Toleranz zu kämpfen. "Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit zur Zukunft unserer Kinder wird", sagte er mit erstickter Stimme. Das beeindruckt alle, auch die Dachauer Kreisräte. Das berühmte Eingangstor zu Auschwitz-Birkenau ist mit einem riesigen Zelt überdacht worden. Für einen Moment rücken Hartmann und Löwl ganz eng zusammen: ein Foto mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck. Nur die drei. Löwl nützt die Gelegenheit, um Gauck auf die Flüchtlingspolitik anzusprechen, schlägt mehr Geld für die Entwicklungshilfe vor, um die Probleme der Menschen in ihren Heimatländern zu lösen. Aber der Bundespräsident sagt nur: "Schön, Sie kennenzulernen."

Nach der Zeremonie kämpfen sich die Dachauer durch dichtes Schneegestöber bis zum Mahnmal am Ende der Rampe, an der SS-Männer die Menschen für die Gaskammer oder Zwangsarbeit selektierten. Die Dachauer sind sichtlich bewegt. Mit Windlichtern gedenken sie der Ermordeten. Oświęcims Landrat Zbigniew Starzec, ein hagerer, asketisch aussehender Mann und ehemaliger Leistungsschwimmer, begleitet sie. Starzec lässt den Dachauern Zeit in Auschwitz. Er lässt ihnen alle Zeit der Welt. Einige Kilometer weiter warten seit fast zwei Stunden Mitarbeiter und polnische Kreispolitiker in einem Restaurant auf die Gäste. Über die Verspätung sehen sie freundlich hinweg. Unpünktliche Deutsche bringen unter diesen Umständen sogar die besseren Voraussetzungen für eine freundschaftliche Bindung mit.

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Quelle:
SZ vom 29.01.2015
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