Ortsentwicklung:Reifezeugnis

Die letzten großen Bauvorhaben in Karlsfeld stehen vor dem Abschluss. Der Rahmen für die Zukunft der Wachstumsgemeinde ist abgesteckt

Von Gregor Schiegl, Karlsfeld

Ende der Achtzigerjahre kam die erste Version von "SimCity" auf den Markt. In dem Computerspiel konnte man Straßen durch die Landschaft planieren, Baugebiete ausweisen und ans Stromnetz anschließen. Wenn man es gut machte, bekam man viele, viele Einwohner, die Geschäfte eröffneten, fleißig einkauften, und Steuern zahlten - wobei auch der Stau nicht lange auf sich warten ließ. Wenn einen die Perfektion langweilte, konnte man eine Katastrophe entfesseln, die die halbe Stadt plattmachte. Wäre Karlsfeld ein Ort in "SimCity", würde wahrscheinlich bald irgend ein Monster die Münchner Straße entlanglatschen und alles zermatschen, das Heizkraftwerk und das Bürgerhaus und vielleicht sogar die Eisdiele an der Allacher Straße. "Die wesentliche Entwicklung ist abgeschlossen", sagt der Karlsfelder CSU-Fraktionschef Bernd Wanka.

Was jetzt noch kommt, weiß man schon: Ein letztes Gewerbegebiet am linken oberen Spielfeldrand, zwei neue Grundschulen und ein Gymnasium, und unten links, das wäre schön, noch ein Supermarkt, weil es westlich der Bahn immer noch keine Einkaufsmöglichkeit gibt. Und dann vielleicht noch ein paar Ampelschaltungen neu programmieren. Das war's, Game over. High Score. "SimKarlsfeld", durchgezockt in Rekordtempo. War's das? Ruft Karlsfeld im Jahr 2020 das Ende der Geschichte aus?

Seit 2008 stellt die CSU den Bürgermeister in Karlsfeld, sie hält die absolute Mehrheit im Gemeinderat. In den vergangenen Jahren hat sie in der Entwicklung der Gemeinde mächtig aufs Tempo gedrückt, große Neubaugebiete, Karlsfelds Ortszentrum Neue Mitte, die urbane Neugestaltung der Münchner Straße samt Ärztehaus und monumentalem Einkaufszentrum, der nicht minder monumentale Betonriegel am Bahnhof für Betreutes Wohnen, eines der größten in Bayern, und Tausende von Neubürgern in Nullkommanix. Natürlich hat die CSU das nicht im Alleingang gemacht, vor allem die SPD hat mit angeschoben, dann aber allerdings auch einige Male versucht zu bremsen. Irgendwie ging das alles doch viel zu schnell. Inzwischen hat die Gemeinde mehr als 22 000 Einwohner, laut Flächennutzungsplan sollten es maximal 24 500 werden, dann ist Ende im Gelände und alles zugebaut.

Betreutes Wohnen

Der neue Ortsteil westlich der Bahn ist weitgehend fertig.

(Foto: Niels P. Joergensen)

War in Karlsfeld nicht mal von "moderatem Wachstum" die Rede? Und jetzt ist die Gemeinde regelrecht explodiert, binnen weniger Jahre von 18 000 auf mehr als 22 000 Einwohner. In Windeseile hat man Kitas aus dem Boden gestampft, überall, und doch irgendwie nie schnell genug. Da muss man schon mal kritisch nachfragen: Hat die Politik die Dynamik des Zuzugs womöglich unterschätzt? Bernd Wanka kann das nicht von der Hand weisen, aber es haben sich ja auch die Experten geirrt, die die Gemeinde beauftragt hat, um ein bisschen mehr Planungssicherheit zu bekommen. Die Prognosen des Bevölkerungswachstums für Karlsfeld 2020 sind jetzt schon Makulatur. Grund sind nicht die neuen Wohnbaugebiete, da wusste man ja, was kommt. Grund ist der Generationenwechsel, der sich fast zeitgleich überall in den alten Wohngebieten aus den Sechzigerjahren vollzogen hat. Die großen Grundstücke mit kleinem Häuschen wurden vererbt, geteilt und neu bebaut, was das Baurecht hergibt. "Wir wehren uns, so gut es geht", beteuert Wanka. Aber allzu viele Ansatzpunkte gibt es nicht für eine Gemeinde, selbst eine Veränderungssperre wirkt nur aufschiebend. Das Ende dieses Wahnsinns ist absehbar, vielerorts sind die Spielräume für Verdichtung schon ziemlich ausgereizt. Aber der Druck im Kessel bleibt groß, und so feiert ein erstaunliches Phänomen aus der Nachkriegszeit in Karlsfeld unerwartet eine Renaissance: der Schwarzbau. Jüngst gab es wieder so einen Fall im Bauausschuss. Die Gemeinde geht rigoros dagegen vor: Rückbau ohne Wenn und Aber.

Von außen mag es anders wirken, aber im Rathaus sitzen keine Wachstumsfetischisten. "Wachstumsmäßig sind wir am oberen Ende angelangt", sagt Wanka, und er bezieht das explizit auch auf Gewerbeflächen: Wenn das geplante Gewerbegebiet an der Schleißheimer Straße einmal stehe, werde man es nach und nach bestücken, ohne Eile, und nur mit den besten Unternehmen.

Karlsfeld stößt an seine Grenzen, die enger sind als in jeder anderen Kommune des Landkreises. Die Großgemeinde hat kaum mehr als 15 Quadratkilometer Fläche. Dazu gehören aber auch Äcker und Wälder, Seen und Grünflächen, deren Wert nicht nur Erholungssuchende und Naturschützer erkannt haben. "Diese Räume wollen wir definitiv bewahren", sagt Wanka.

Innerorts geht es jetzt vor allem darum, Ordnung zu schaffen, Lücken zu schließen, zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört, aber nur irgendwie nebeneinander gewürfelt wurde: den Marktplatz aus den Siebzigerjahren zum Beispiel, das Einkaufszentrum "Karlsfelder Meile" und das gerade erst fertig gestellte Bindeglied, die "Neue Mitte Karlsfeld". Um das richtige Konzept gab es viel Streit, Bürgerinitiativen und Gemeinderäte beharkten sich, es gab viel böses Blut, aber jetzt, da das Zentrum steht, haben sich die Gemüter wieder beruhigt, auf beiden Seiten. So schrecklich, wie manche Kritiker das Projekt hingestellt haben, als seelenloses Beton-Monument, als Ghetto und sozialer Brennpunkt, ist es nicht geworden. Die Menschen leben gerne dort, sie gehen dort auch gerne einkaufen. Vorbei die Hysterie. Der Untergang Karlsfelds findet nicht statt.

Würmschleife

Naturräume wie das Biotop an der Würmschleife sollen auf jeden Fall erhalten werden.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Aber auch bei der CSU zeigt sich eine neue Nüchternheit im Umgang mit dem eher soliden als schmucken Zentrum. "Die Wirtschaftlichkeitsgedanken haben uns überrollt", sagt Bernd Wanka. Vor 15 Jahren wäre es vielleicht noch leichter gewesen, eine Planung im Sinne der Gemeinde hinzubekommen. Und darin schwingt auch schon die implizite Verteidigung gegen die Kritiker mit, die der CSU vorwerfen, sie habe in der Ortsentwicklung doch einiges übers Knie gebrochen, auch in der Umgestaltung der Münchner Straße. "Ich weiß", sagt Wanka, "manche hätten das Straßendorf Karlsfeld gerne behalten. Aber jetzt haben wir nun mal eine Entwicklung in Richtung kleinstädtisch-urbanem Charakter." Und es sei doch besser, aktiv eine Entwicklung voranzutreiben als sich vom Lauf der Dinge überrollen zu lassen.

Fragt man Wanka, ob die Neue Mitte denn jetzt der Bürgertreffpunkt geworden sei, den er sich immer vorgestellt habe, sagt er: "Noch nicht." Der Platz benötige eine bessere Möblierung: Holzauflagen zum Beispiel, damit man nicht auf nacktem Beton sitze, und vielleicht noch ein paar Blumenkästen. Das bisschen Grün auf dem Platz reiche nicht aus. Und damit es hier zur Winterzeit nett aussieht, denkt Wanka über eine Weihnachtsbeleuchtung nach, von der Neuen Mitte über die Gartenstraße zum alten Marktplatz. Natürlich kostet das Geld. "Aber wir wollen die Gemeinde ja auch nicht kaputtsparen."

Zu den zentralen Wahlkampfversprechen der CSU gehörte immer, diese nach außen immer etwas verschnarcht wirkende Randgemeinde mit Leben zu füllen. Auf der CSU-Agenda stehen noch viele Punkte, die das Leben in Karlsfeld schöner machen sollen: ein Kulturzentrum, Festivals, ein Vereinsleben, das jetzt schon sehr reich ist, das aber in der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommen wird. "Wir können in den nächsten drei Jahren Dinge lösen, für die wir bisher keine Kapazitäten hatten", sagt Bernd Wanka. Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt in der Historie, ein neues Spiel, wenn man so will: Unser Dorf soll schöner werden. Karlsfeld putzt sich raus.

Ortsentwicklung: Nach mehr als 40 Jahren steht sie endlich, Karlsfelds "Neue Mitte". Nur aufgehübscht werden muss das Ortszentrum noch.

Nach mehr als 40 Jahren steht sie endlich, Karlsfelds "Neue Mitte". Nur aufgehübscht werden muss das Ortszentrum noch.

(Foto: Toni Heigl)

Es ist nicht die erste große Zäsur in der Gemeindegeschichte: Vor 200 Jahren rangen die ersten Siedler dem Morast des Dachauer Mooses Ackerflächen ab, es war ein hartes, mühsames Leben. Oft verfaulten die Kartoffeln im nassen Boden, und so mickrig wie die Feldfrüchte entwickelte sich auch der Ort bis ins 20. Jahrhundert. Es gab keine asphaltierten Straßen, keine Geschäfte, keine Schulen, selbst zum Friseur musste man nach Allach. Der Alltag in Karlsfeld war mehr Überleben als Leben.

Erst nach 1945 wuchs der Ort, viele Kriegsflüchtlinge und Heimatvertriebene ließen sich nieder, bauten, werkelten und schufteten. Das Unfertige war immer Wesensmerkmal des Karlsfelder Charakters. Es kamen neue Menschen aus neuen Kulturen: Siebenbürger, Sudeten und Ostpreußen, Italiener, Türken und Griechen. Karlsfeld, dieser Schmelztiegel der Kulturen, der jeden Neuankömmling mit offenen Armen aufnehme, habe etwas von der "Neuen Welt", hat der frühere Pfarrer der Korneliusgemeinde jüngst einmal geschwärmt.

Nach 140 Jahren Pionierarbeit und 70 Jahren Aufbau stehen nun Ausgestaltung, Differenzierung und Vernetzung an, aber auch Schärfung der eigenen Identität. Der Wappenspruch im Großen Siegel der Vereinigten Staaten könnte als programmatische Leitlinie herhalten für diese dritte große Entwicklungsstufe: "E pluribus unum". Aus vielen eines machen.

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