Süddeutsche Zeitung

Oktoberfest 2022:Der Wiesn-Präse

Lesezeit: 5 min

Im normalen Leben hat Christian Glas einen Schreibtischjob. Doch mit dem Start des Münchner Oktoberfestes schlüpft er in eine neue Rolle: 17 Tage lang wird er im Schottenhamel-Festzelt als Bedienung arbeiten. Über einen, der die Gaudi liebt.

Von Jacqueline Lang, Hebertshausen

An sein erstes Mal erinnert sich Christian Glas noch ganz genau, 2006 war das. Da hatte er bei einem Spezl, der schon länger auf der Wiesn arbeitete, sein Interesse bekundet, auch mal Bedienung in einem der großen Zelte werden zu wollen. Der hatte ihm dann aber gesagt, dieses Jahr, da werde das nichts mehr. Also fuhr Glas - besser bekannt als "Präse", wie ein Glubberl an seiner Weste verrät - am Freitag vor Wiesn-Beginn wie gewohnt zum von Radio Gong organisierten "Tanztee auf dem Ammersee" und kam erst gegen 2 Uhr nachts nach Hause, nicht mehr ganz nüchtern versteht sich. Als er am Samstagmorgen gegen 9 Uhr mit leichten Kopfschmerzen aufwachte, hatte er ein Dutzend verpasste Anrufe von seinem Spezl auf dem Display. Vier Bedienungen seien ausgefallen, ob Glas doch noch einspringen könne? Und weil Glas schlecht nein sagen kann, stand der heute 55-Jährige eine Kopfschmerztablette und zwei Stunden später dann doch im Schottenhamel-Zelt. Bis zum Anstich blieben ihm da noch 45 Minuten. "Das war Chaos hoch drei."

16 Jahre ist die Wiesn-Premiere von Glas her. Und obwohl der Hebertshausener damit eigentlich schon ein alter Hase ist, ist er jedes Jahr aufs Neue ein bisschen nervös. Und dieses Jahr ganz besonders, immerhin ist der Volksfestbetrieb ja ganze zwei Jahre coronabedingt ausgefallen, und damit hatten auch Glas und die rund 2000 anderen Wiesn-Bedienungen eine Pause. Jünger wird man schließlich nicht: Bei dem leidenschaftlichen Fußballer Glas macht seit kurzem das linke Knie Faxen. Arthrose lautet die Diagnose, ein wenig humpeln tut er wegen der Schmerzen. Eigentlich müsste ein neues Knie her, aber weil Glas noch vergleichsweise jung ist, wollen die Ärzte die OP noch etwas hinauszögern. Nicht die allerbesten Voraussetzungen für 17 Tage auf den Beinen. "Hoffentlich steh ich's durch", sagt Glas. An fehlender Vorbereitung jedenfalls dürfte es nicht scheitern: Die Hausapotheke ist längst aufgefüllt, die neuen Schuhe eingelaufen, 17 weiße Hemden warten auf Kleiderbügeln aufgereiht auf ihren Einsatz, ja, sogar die diesjährige Speisekarte hat Glas in den Urlaub an den Gardasee mitgenommen, um die aktuellen Preise zu lernen.

Seit 2012 arbeitet Glas in der Anzapfbox

Trifft man den Hebertshausener wenige Tage vor dem Oktoberfest in seinem Garten, wird aber ohnehin schnell klar, dass die Vorfreude eindeutig überwiegt: Über den Biertisch, an dem er sitzt, ist eine blau-weiß karierte Tischdecke gelegt, ein großes Holzfass im Eck ist mit Brezen, Steinkrügen und Lebkuchenherzen geschmückt, auf einem davon steht "Wiesn-Gaudi". Allerdings, das muss Glas zugeben, hat er das alles nicht gerade erst dekoriert. Der selbst erklärte "Volksfestfan" hat in den nunmehr fast drei Jahren Pandemie in seinem Garten mit Freunden schon das eine oder andere "Fasserl" geleert, da durfte die richtige Deko natürlich nie fehlen.

Ab diesem Samstag wird ihm zum gemütlichen Biertrinken aber erst einmal kaum mehr Zeit bleiben: Glas arbeitet seit zehn von 16 Jahren im Schottenhamel-Zelt in der Anzapfbox. Das ist jene Box, in der der Münchner Oberbürgermeister - seit 2014 ist das Dieter Reiter (SPD) - üblicherweise das erste Fass ansticht und damit traditionell die Wiesn eröffnet. An Glas' Arbeitsstätte tummeln sich daher am ersten Wiesn-Samstag Politik-Prominenz und Presse. Für den 55-Jährigen bedeutet das zumindest am ersten Tag einen etwas verspäteten Arbeitsbeginn: Während all seine Kolleginnen und Kollegen gegen 12 Uhr schon an der Schenke fürs erste Bier anstehen, muss Glas etwa bis 14 Uhr warten, bis mit den beiden Hirschen - so nennt man die hölzernen 200-Liter-Fässer, die Reiter anzapft - das Freibier leer ist. Erst danach beginnt für Glas das Geschäft.

Als Wiesnbedienung erlebt man viel

Bis dahin bleibt Zeit genug, sich vor die Kameras zu mogeln: Das sei von der Familie Schottenhamel zwar nicht so gern gesehen, erzählt der Hebertshausener mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, aber wenn er und seine vier Kolleginnen und Kollegen sich im Hintergrund hielten, würden sie in der Regel nicht verscheucht. Und weil Freunde und Familie vor den Fernsehern jedes Jahr nur darauf warten, ihn zu Gesicht zu bekommen, probiert er es immer wieder - bis sein Handy anfängt zu piepen. "Jetzt lach halt mal" oder "Warum schaust du so blöd?" schreiben die Daheimgebliebenen ihm dann.

Über die Jahre hat Glas, der sich für das Gespräch, wie es sich für eine Schottenhamel-Bedienung gehört, in eine schwarze Hose, eine schwarze Samtweste und ein weißes Hemd geschmissen hat, aber nicht nur schon oft in die Kameras gelacht, er hat auch einige mehr oder weniger lustige Geschichten miterlebt: Gut erinnert er sich zum Beispiel an den Mann, der mal ein Herz aus einer Tischdecke geschnitten hat, um, wie Glas später erst erfuhr, seiner Angebeteten damit einen Heiratsantrag zu machen. Was nach einer süßen Geste klingt, war für Glas ziemlich ärgerlich, kostete ihn die Tischdecke doch eine Stange Geld im Einkauf. Weil der Gast den verursachten Schaden zunächst nicht begleichen wollte und sich aufführte, endete der Heiratsantrag für den Wiesn-Besucher kurzzeitig sogar in einer Zelle auf der Wiesn-Wache - und Glas kam zum ersten Mal als Bedienung in die Zeitung. Die zerschnittene Tischdecke hat er dem Mann übrigens im Nachhinein geschenkt.

Gerne erzählt er auch die Geschichte von dem einen Mal, als seine Schwägerin ins Rathaus laufen musste, um nachträglich noch die Steinkrüge vom Oberbürgermeister signieren zu lassen. Normalerweise passiert das beim Anstich, in diesem einen Jahr verpassten sie aber den richtigen Moment, und Dieter Reiter war schon weg. Weil die Frau seines Bruders aber gegenüber vom Rathaus am Marienplatz arbeitet, wurde sie kurzerhand damit beauftragt, nachträglich noch Autogramme zu besorgen. Reiter, mit dem Glas selbstverständlich längst per Du ist, habe das gerne gemacht, erzählt Glas und hält - wie zum Beweis - stolz einen der signierten Krüge hoch.

Im normalen Leben hat Glas einen Schreibtischjob

Für Glas, der im normalen Leben einen Schreibtischjob hat und Qualitätsprüfer beim Triebwerkhersteller MTU ist, ist das Arbeiten auf Volksfesten über die Jahre zum geliebten Hobby, aber auch zum willkommenen Nebenerwerb geworden. Und so arbeitet er seit nunmehr neun Jahren neben dem Oktoberfest auch noch auf dem Dachauer Volksfest und, wenn er zu der Zeit gerade nicht im Urlaub ist, auch immer mal wieder das erste Wochenende auf dem Rosenheimer Herbstfest. Ihm sei es, so Glas, lieber, mal ein paar Wochen am Stück durchzuarbeiten, als das ganze Jahr über einen Nebenjob zu haben. Wie viel er auf der Wiesn verdient, will Glas wie die meisten seiner Bedienungskollegen nicht verraten, aber so viel sagt er dann doch: "Ein paar Monate danach geht's leichter."

Doch auch wenn Glas "das Pulver", wie er seinen Verdienst nennt, gerade in Zeiten von steigenden Lebensmittel- und Benzinpreisen gut gebrauchen kann, ist er keiner, der es nur fürs Geld macht. Anders als sein Bruder, der mittlerweile auf der Oidn Wiesn im Festzelt Tradition arbeitet, sei er kein "Tausendprozentiger", sagt Glas. Was der Lebemann, der locker 14 Mass stemmt, meint: Die Gaudi darf vor lauter Arbeit auf keinen Fall zu kurz kommen.

Die "Totenstille" nach der Wiesn ist das Schlimmste für Glas

Aber Gaudi hin oder her: Das Coronavirus und wie es die Wiesn negativ beeinflussen könnte beschäftigt kurz vor der Wiesn selbstverständlich auch Glas. Immerhin musste er sich selbst nur einen Tag vor Beginn des Dachauer Volksfests ins Dachauer Hotel Fischer ausquartieren, als seine Frau plötzlich einen positiven Test in der Hand hielt. Weil er aber in 16 Jahren Wiesn noch kein einziges Mal krankheitsbedingt ausgefallen ist, hofft er einfach auf das Beste. Dreimal impfen lassen habe er sich ja schließlich schon und mit Maske rumzulaufen, das bringe im vollen Zelt ja doch nichts.

An diesem Samstag geht die Wiesn-Gaudi also wieder los. Aber was, wenn man mal 17 Tage vor spult? Dann wird Glas vermutlich ein paar Kilo leichter sein, weil er vor lauter Hackeln kaum zum Essen gekommen ist und er wird sich freuen, wenn er seine Bedienungskluft endlich wieder gegen eine bequeme Jogginghose eintauschen kann. Aber da wird eben auch dieses "tiefe Loch" sein, in das er fällt, wenn nach all den Tagen im lauten Zelt da plötzlich diese "Totenstille" ist. Deshalb wird Glas dann "TV München" anschalten und die Wiesn auf der Couch noch einmal Revue passieren lassen - und sich im Stillen vermutlich schon wieder auf das Oktoberfest 2023 freuen. Denn der Präse weiß: Nach der Wiesn ist vor der Wiesn.

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