Süddeutsche Zeitung

Neuer Roman:Ein Autor überrascht sich selbst

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Bei seiner nachgeholten Lesung in der Stadtbücherei gewährt Michael Köhlmeier sehr persönliche Einblicke in die Welt des Schreibens

Von Gregor Schiegl, Dachau

Den Auftritt beim Lesefestival "Dachau liest" hatte Michael Köhlmeier im Oktober krankheitsbedingt absagen müssen, doch am Dienstag ist der Autor, der im Vorarlberg lebt, nur eine Talseite von seinem Kollegen und Freund Raoul Schrott entfernt, endlich da. Die Erwartungen sind hoch, der Raum gesteckt voll. Köhlmeier ist ein kraftvoller Erzähler, berühmt für seine Fabulierkunst, sein neuer Roman "Bruder und Schwester Lenobel" wird von Lesern wie Feuilletons gefeiert. Sorgsam entwirrt Köhlmeier darin die verschlungenen Lebensläufen der Geschwister Jetti und Robert Lenobel und seiner Frau Hanna. So wird eine jüdische Familiengeschichte frei gelegt, in der die Traumata des Holocaust bei den Nachgeborenen noch einmal an die Oberfläche drängen, und irgendwie passt das ja auch: Robert Lenobel ist Psychiater.

Michael Köhlmeier ist anders, weniger analytisch, ein sinnlicher Erzähler, der reflektiert, aber nichts konstruiert. "Ideen habe ich keine, Thema habe ich keins, auch keinen Plot", beschreibt er die übersichtliche Ausgangslage vor dem Verfassen eines Romans. Was er habe, das sei eine Figur oder eben zwei wie die Geschwister Lenobel. Alles entspinnt sich aus dem Kennenlernen dieser Figuren: Man kann noch nicht unterscheiden zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, so wie das auch Verliebten ergeht. Der Roman beginnt mit einer E-Mail Hannas an ihre Schwägerin Jetti: "Komm, dein Bruder wird verrückt!" Was genau Hanna damit meint, habe er zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht gewusst, gibt Köhlmeier mit entwaffnender Offenheit zu. "Ich finde des spannend, wenn ich bei Beginn der Seite nicht weiß, was danach kommt." Auf einmal ist Robert verschwunden - auch das eine Überraschung für den Autor.

Köhlmeier liebt seine Figuren, das spürt man in jedem seiner Worte, er liebt ihr schönen und ihre hässlichen Seiten, er liebt ihre Widersprüche und er liebt ihren Eigensinn. Das hat manchmal durchaus komische Züge, etwa, wenn er berichtet, dass in seinem extrem figurenreichen Roman "Abendland" auf einmal einer anfängt, von seiner Halbschwester zu erzählen. "Ich habe mich nicht getraut zu widersprechen", sagt Köhlmeier dann fast kleinlaut. Im echten Leben könne man ja auch nicht einfach zu jemandem sagen: "Mir wäre es aber lieber, wenn Sie keine Halbschwester hätten." Gelächter im Publikum.

Köhlmeier erschafft als Erzähler Welten und ist darin doch selbst nur Gast, bis seine Figuren ihn mit einem rüden "Schleich di" rauswerfen. Solange er darin verweilen darf, studiert er sie in all ihren menschlichen Facetten, vor allem die Diskrepanz zwischen Sein und Wollen reizt ihn, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, die kleistert er nicht zu, sondern lässt sie drastisch aufplatzen. In einem Moment tröstet Jetti Hanna noch, die Frauen umarmen sich und weinen. Bis sie sich der posenhaften Kitschigkeit dieser Geste bewusst werden, die dem Muster einer schlechten amerikanischen Vorabendserie entsprungen zu sein scheint, und auf einmal kippt diese Innigkeit in einen verstörenden Ekel. Mindestens genauso kurzweilig wie die Lesung sind die Plaudereien Köhlmeiers mit seinem Literaturagenten Thomas Kraft, in denen der Autor begründet, warum Bob Dylan den Literaturnobelpreis zu Recht bekommen habe, warum die karg beschriebenen Szenen in den Romanen von Leo Tolstoi viel intensiver wirken als die ausufernden beschriebenen bei Émile Zola und warum er lieber Romane schreibe: "Bei Kurzgeschichten muss man sich den Sinn des Lebens jeden Morgen neu aufbauen."

Wer aus alledem eine Botschaft ziehen möchte, bekommt von Köhlmeier kein Loblied auf hehre Ideale zu hören, sondern ein Plädoyer für nachsichtigen Pragmatismus in allen Lebensbereichen. Wenn in der Politik von großen Visionen die Rede sei, zucke er innerlich zusammen. Ihm seien "Durchwurschtler" wie der österreichische Kanzler Bruno Kreisky lieber. Und so lernt man auch die Figuren in Köhlmeiers Romanen kennen. Als Menschen, die sich durchwurschteln, denn nichts anderes ist das Leben.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2018
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