Golden glänzt das Messing wieder, das eben noch dunkel und beschlagen im Novemberlicht lag. Der quadratische Stein ist in den Fußweg eingelassen. Gerade haben Schülerinnenhände mit rot lackierten Fingernägeln die Polierpaste auf der metallenen Oberfläche verteilt und mit einem Tuch abgerieben. Nun ist wieder gut sichtbar, was dort geschrieben steht: die Namen der Opfer des Nationalsozialismus, die hier lebten, und an die inzwischen 15 Stolpersteine in der Stadt erinnern.
Es ist ein jährliches Ritual und doch ein besonderer Moment. Die Elftklässlerinnen Leonie Schweitzer, Marie Meister und Anna-Sophia Feurer sind drei von vielen, die am Sonntag die Stolpersteine in Dachau pflegen und reinigen. Im kalten Novemberwetter stehen sie im Kreis um den Stein mit dem Namen Samuel Gildes an der St.-Peter-Straße 2. „Ich finde es wichtig, dass man nicht vergisst, was diesen Menschen zugestoßen ist, und dass man ihnen die Ehre erweist“, sagt Leonie Schweitzer.


Samuel Gilde war ein jüdischer Arzt, geboren 1874 im litauischen Kaunas. Er hatte sich spezialisiert auf Haut- und Geschlechtskrankheiten, 1938 erhielt er ein Berufsverbot von den Nationalsozialisten. Am 1. November versuchte Gilde schließlich, in Dachau bei dem Schriftsteller Herrmann Gottschalk unterzutauchen. Doch die SS fasste ihn bald und brachte ihn ins Konzentrationslager Dachau. Er musste Zwangsarbeit bei der Flachsröste in Lohhof leisten. 1942 wurde er ins KZ Theresienstadt deportiert, in den Akten hieß es lapidar, er sei „nach Osten abgewandert“. Ermordet wurde er am 30. Juni 1944.
Gildes Schicksal ist eines von vielen, an das Menschen sich an diesem Sonntag erinnern. Anders als in den Vorjahren bieten die Gästeführerinnen der Stadt heuer keinen Rundgang an, sondern haben an jedem der 15 Steine eine kleine Station aufgebaut. Eine ausgehängte Karte zeigt die Standorte der 15 Gedenksteine. So kommt es, dass im Laufe des Nachmittags immer neue Passanten die Stolpersteine besuchen, die seit 2005 in Dachau liegen.
Zuletzt wurden zehn Stolpersteine in Zeitz gestohlen
Das Projektteam des Künstlers Gunther Demnig hat inzwischen mehr als 113 000 Gedenksteine weltweit verlegt. Sie bilden zusammen das flächenmäßig größte Mahnmal, das an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert. Erst kürzlich wurden zehn Stolpersteine aus dem öffentlichen Raum im sachsen-anhaltinischen Zeitz gestohlen, ausgerechnet am 7. Oktober, dem Jahrestag des Angriffs der Hamas auf Israel.
In Dachau kommt nun die Passantin Sabine Kölbl-Miersch gemeinsam mit ihrer 16-jährigen Tochter Viktoria auf ihrer Rundtour vorbei. „Mir macht es Angst, dass der Antisemitismus wieder so stark ist“, sagt die 16-Jährige. „Ich finde es krass, dass es wieder so viel Judenhass gibt.“ Ihre Mutter stimmt zu: „Ich habe ein mulmiges Gefühl bei den anstehenden Neuwahlen.“ Gemeinsam betrachten sie den frisch polierten Stolperstein und lauschen der Biografie Samuel Gildes. Sie empfinde vor allem Mitgefühl, sagt Kölbl-Miersch. Sie zitiert einen Vers aus dem Talmud, in dem es heißt, ein Mensch sei erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist. „Es ist unrecht, was diesen Menschen geschehen ist“, fügt ihre Tochter Viktoria Miersch hinzu. „Aber es ist auch schön, an diese Menschen zu denken.“
„Es ist unrecht, was diesen Menschen geschehen ist.“
Den Schülerinnen und Schülern des Ignaz-Taschner-Gymnasiums, die an diesem Tag die Steine polieren, geht es ähnlich. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin Hedwig Bäuml haben sie nicht nur den Gedenktag des 9. November im Unterricht vorbereitet. Sie haben auch kürzlich eine Schüleraustauschgruppe aus dem polnischen Oświęcim in Dachau begrüßt und gemeinsam die KZ-Gedenkstätte besucht. Die drei Jugendlichen in Daunenjacken setzen ihren Weg fort in die Friedenstraße, wo eine weitere Messingtafel der Fürsorge bedarf. Sie erinnert an Anton Felber.
Gästeführerin Sabine Herrmann erzählt dessen Werdegang: 1902 geboren, wächst Felber als Waisenkind in großer Armut auf. Der gelernte Korbmacher sei immer wieder wegen Diebstählen verurteilt worden, einmal habe er ein Fahrrad gestohlen. Seine letzte gemeldete Wohnanschrift war die damalige Friedenstraße 5, heute steht hier ein Kindergarten. 1938 wurde Felber verhaftet. Im SS-Jargon fiel er in die Kategorie „Asoziale und Berufsverbrecher“ – einen rechtsstaatlichen Prozess bekam er nie. Direkt nach dem Abbüßen seiner letzten Strafe wurde er erneut verhaftet und 1939 ins KZ Flossenbürg deportiert. Dort starb er bei der Zwangsarbeit in einem Steinbruch.
Eine niedrigschwellige Gedenkform
Nachdem die Schülerinnen auch Felbers Gedenkstein wieder zum Glänzen gebracht haben, stellt sich Claudia Bösewetter aus Erdweg mit ihrer elfjährigen Tochter hinzu. Dies sei für sie eine zugänglichere Erinnerungsform als der Besuch der KZ-Gedenkstätte, sagt sie. Sie wollte eigens den Stein in der Friedenstraße besuchen, weil ihr von diesem Ort schon ihr Vater erzählt habe: Dessen Verwandte hatten noch erlebt, wie sich hier einst die Gefangenentransporte ins KZ Dachau auf den Gleisen stauten. Die Menschen in den Waggons hätten um ihr Leben geschrien – und seien schließlich verstummt.
Bösewetter wird auch still, springt ins Auto, sie will noch den anderen Stolpersteinen ihre Aufwartung machen. Der physikalische Prozess der Oxidation lässt sich mit etwas Poliermittel und Reibungsenergie unterbrechen. Die Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu stoppen, wird mehr Kraft erfordern.