Nachruf:Max Mannheimer lebte, um zu erzählen

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Zigtausenden Schülern erzählte Max Mannheimer seit 1986 seine Geschichte und darin die Geschichte der sechs Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. (Foto: Robert Haas)

Der Holocaust-Überlebende war einem Abgrund von Hass und Gewalt entstiegen. Und wurde zum Erzähler der Geschichte der sechs Millionen ermordeten Juden.

Nachruf von Helmut Zeller, Dachau

Hundert Jahre alt wollte er werden. Mindestens. Das sagte er jedem. Auf der Einladungskarte zum 95. Geburtstag im Februar 2015 vermerkte er handschriftlich: "Ich lade Euch auch gleich zum 100. ein." Seine Freunde und Verehrer nahmen es nur zu gerne als ein Versprechen. Großherzig, wie er war, ließ er sie das Unausweichliche fast vergessen.

Ihn hielt nicht nur die Liebe zum Leben, auch wenn sie groß und leidenschaftlich war wie alle seine Gefühle. Auch machte ihm der Tod keine Angst mehr. Zu oft hatte er ihn gesehen. Max Mannheimer war einem Abgrund von Hass und Gewalt entstiegen. Darum wurde er zum Erzähler der Geschichte der sechs Millionen, die dort geblieben sind. Ein Menschenleben reicht dafür nicht aus. Das wusste er und deshalb wollte er nicht aufhören zu leben und zu erzählen.

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Der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer war eine der wichtigsten Stimmen für die im Nationalsozialismus ermordeten Juden. Seine Mahnung, nicht zu vergessen, bleibe unser Auftrag, sagte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer.

Das erste Leben des Max Mannheimer: Die Davongekommenen ordnen ihre Erinnerungen drei Abschnitten zu, der Zeit vor dem Holocaust, während der Vernichtung der europäischen Juden und nach 1945. Der Sommer 1936 gehört vor allem ihr: der Schneidertochter Sala Bachner. "Rote Bäckchen, schwarze Haare, ein wunderschönes Mädchen. An Mitternacht lief ich für sie über den jüdischen Friedhof, zum Lohn für die Mutprobe bekam ich zwei Küsse: einen auf die linke, einen auf die rechte Wange." Max Mannheimer ist 16, als er in den Ferien seiner ersten großen Liebe begegnet - in Oswiecim, der polnischen Kleinstadt, bei der die Deutschen bald schon das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau errichten sollten.

Das zweite Leben des Max Mannheimer: "Um Mitternacht hielt der Zug mit kreischenden Bremsen." Ankunft in Auschwitz-Birkenau in der Nacht auf den 2. Februar 1943. Die Zugfahrt begann in Theresienstadt, und die Familie Mannheimer klammert sich an den Gedanken, es gehe zum Arbeitseinsatz in den Osten. An der Rampe schickt ein SS-Offizier seine Eltern, seine junge Frau Eva und seine Schwester Käte nach rechts in die Gaskammern. Max und seine Brüder Ernst und Edgar dürfen nach links. Ernst erkrankt bald schon schwer und wird ermordet. Der Bruder Erich war schon 1942 nach Brünn verschleppt worden. Er starb am 15. Februar 1943.

Edgar und Max überleben Auschwitz, werden nach Warschau, Dachau, Karlsfeld und Mühldorf deportiert. Am 30. April 1945 befreien US-Soldaten den an Fleckfieber erkrankten Max Mannheimer. Er wiegt 37 Kilogramm. "Weinte ich vor Erleichterung, weil ich frei war oder aus Schmerz über den Verlust meiner Familie? Ich weiß es bis heute nicht." Er geht in die Heimat zurück, nach Neutitschein in der Tschechoslowakei. Nie wieder will er einen Fuß auf deutschen Boden setzen. Aber dann überredet ihn seine zweite Frau Elfriede. Das Paar lässt sich 1946 mit der Tochter Eva in München nieder. "Die Liebe ist stärker als alles andere."

Überhaupt die Frauen: Max Mannheimer verehrt sie auf eine chevalereske Weise - nur hübsch, intelligent und kultiviert müssen sie sein. Eva, die vier Monate nach der Hochzeit in Auschwitz ermordet wurde; die sudetendeutsche Fritzi, die in Mähren gegen das Naziregime kämpfte und später SPD-Stadträtin in München wird; Grace, eine Amerikanerin und Liebhaberin von Kunst und Literatur. "Sie waren mir alle überlegen", sagte Mannheimer.

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Sein drittes Leben: 1990 übernimmt Max Mannheimer den Vorsitz der Lagergemeinschaft Dachau. In diesem Amt und als Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees beeinflusst er die Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Dachau und die bayerische Erinnerungspolitik überhaupt. Er prägt 1996 die Neugestaltung der Gedenkstätte. Im jahrelangen Kampf für ein Internationales Jugendgästehaus triumphiert sein diplomatisches Geschick über die Stadtpolitiker und Bürger, die gerne einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen hätten. Das Studienzentrum in dem Haus wird nach ihm benannt. Der Dachauer Altlandrat Hansjörg Christmann (CSU) sagt: "Er war unglaublich gewitzt."

Die Schüler lieben ihn. Zigtausenden erzählt er seit 1986 seine Geschichte und darin die Geschichte der sechs Millionen. "Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht." Nicht als Ankläger, sondern als Zeuge und Aufklärer will er auftreten. Er will die Jugendlichen immun machen gegen den Hass. Sie sollen für Demokratie und Menschenrechte einstehen. Es ist etwas Besonderes um seine Begegnungen mit jungen Menschen. Der Funke springt sofort über. Endlich spricht da einmal ein Erwachsener mit ihnen, der anders ist, echt und aufrichtig - und, wie eine seiner Enkelinnen sagt, ein "cooler Opa" ist.

"Der Reisende in Sachen Humanität" (Mannheimer) ruft Empathie hervor und vermittelt Wissen, die geschichtlichen Fakten des Holocaust und Nationalsozialismus. Zeitgeschichtler akzeptieren ihn als Ratgeber und Experten. "Er ist nicht nur ein außergewöhnlicher Mensch, sondern auch eine Ausnahmeerscheinung als Historiker der eigenen Zeitgenossenschaft", erklärt der Wissenschaftler Günter Hockerts zur Ehrenpromotion Max Mannheimers in der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2000.

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Viel Ehre und viele Orden. Bunte Metalle der französischen Ehrenlegion, den Wilhelm-Hoegner-Preis, das Bundesverdienstkreuz sowieso, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Dachau und seiner mährischen Geburtsstadt Neutitschein. Dutzende Auszeichnungen mehr liegen in seinem Haus im Münchner Stadtteil Haar. "Jetzt kann ich mich bald Herrmann nennen", sagte er einmal, "weil ich schon mehr Orden als der Göring habe". Er lachte. Aber sein Blick war nicht fröhlich.

Mehr als 500.000 Google-Eintragungen zu seinem Namen: Max Mannheimer wird zu einem Star. Wo immer er auftritt, die Menschen umringen ihn, Küsschen hier, Küsschen da. "Ich wollte immer schon im Mittelpunkt stehen", sagt er kokett mit seiner Eitelkeit spielend. Aber es gibt auch andere Momente: "Ich bin doch kein Popstar", schimpft er dann. Mit seinem Schmerz und seiner Trauer bleibt er ohnehin allein, wenn seine Erinnerungen ihn auf den Grund der Mördergrube zurückwerfen. Die Auschwitz-Nummer 99 728: Als eine Enkelin sie auf seinem linken Unterarm sieht und nachfragt, erklärt er ihr, das sei eine Telefonnummer. Er will seine Familie nicht belasten.

Es sind Jahre des Glücks - im Schatten von Albträumen und Depressionen. Darüber hilft ihm das Malen hinweg. 1975 stellt er seine Bilder zum ersten Mal in der Galerie Eichinger in München aus. Er signiert seine Werke zu Ehren seines Vaters mit ben jakov, das ist hebräisch und heißt Sohn des Jakob. Mehr als 30 Ausstellungen seiner abstrakten Gemälde sollten folgen. Max Mannheimer versteht sich nicht als Künstler, macht sich zuweilen sogar darüber lustig, dennoch sind sie für ihn wichtig - und für eine wachsende Zahl von Liebhabern. Kunsthistoriker deuten seine Werke, die im Keller seines Hauses entstehen. In ernsten Momenten nennt er seine Gemälde seine Kinder.

1964 starb seine Frau Fritzi. Ein paar Monate später glaubt Max Mannheimer, an einem bösartigen Tumor erkrankt zu sein. Er will für seine Tochter Eva seine Erfahrungen aufschreiben. "Zum ersten Mal ließ ich die Erinnerungen, denen ich bislang so sorgsam aus dem Weg gegangen bin, indem ich mich, wie Fritzi es genannt hatte, achtzehn Jahre lang in ein inneres Ghetto zurückgezogen hatte, nun derart detailliert und umfassend zu." Die Erinnerungen, erstmals 1985 in den "Dachauer Heften" publiziert, leiten eine Wende in Mannheimers Leben ein. Fortan tritt er, zunächst noch mit Hilfe von Beruhigungsmitteln, als Zeitzeuge auf. Er macht Führungen in der KZ-Gedenkstätte Dachau - die Krematorien, nach den Plänen der in Auschwitz erbaut, kann er nicht betreten.

Unter dem Titel "Spätes Tagebuch" wird sein Zeugnis als Buch veröffentlicht - ein herausragendes Werk, nüchtern und präzise geschrieben. Das Buch wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, sogar ins Japanische. Rezensenten loben den fast atemlosen Stakkato-Stil. Max Mannheimer bemerkte dazu lakonisch: Klar, ich beeilte mich, weil ich doch glaubte, keine Zeit mehr zu haben. Seine Familie gibt ihm Halt: 1967 wurde der Sohn Ernst geboren, er und Eva haben wiederum fünf Kinder, die eine Schar von Enkelkindern in das Leben Mannheimers bringen. Auf Fotos mit seinen Nachkommen strahlt Max Mannheimer, der Überlebende, dem in Auschwitz die ganze Familie genommen wurde.

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Er hat viele Freunde außerhalb der jüdischen Gemeinde gefunden: Münchens ehemalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD), Christian Ude (SPD) sind darunter, der Historiker Wolfgang Benz, die langjährige KZ-Gedenkstättenleiterin Barbara Distel, die im Kampf gegen das Vergessen zu seiner Verbündeten wird. Und da ist noch eine nicht alltägliche Beziehung: Schwester Elija Bosler vom Karmel-Kloster in Dachau. Die Nonne und der Jude - das ist nach Mannheimers Geschmack. "Das ärgert den Bischof", sagt er und lacht. 2009 kam der Dokumentarfilm "Der weiße Rabe" ins Kino. Er wurde in Auschwitz und Dachau gedreht. Als Überlebender ist er, wie er sagte, doch ein ziemlich seltener Vogel. Ein weißer Rabe. Das gefiel ihm.

2012 erscheint "Drei Leben", das auch die Nachkriegserfahrungen Mannheimers reflektiert - und den Münchnern, die von der einstigen "Hauptstadt der Bewegung" nichts mehr wissen wollen, einen Spiegel vorhält. Max Mannheimer, der Sozialdemokrat, bezeichnete sich oft als einen unpolitischen Menschen. Das war er natürlich nicht.

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Der überzeugte Sozialdemokrat mischte sich nur zu gern in politische Fragen ein. Er rügte Justiz und Politik für ihren laxen Umgang mit rechtsextremen Bewegungen, forderte ein Verbot der NPD, und stritt bei Landtagsanhörungen gegen eine kommentierte Herausgabe von Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf". Er forderte, wenn er es für nötig hielt, Historiker und Politiker heraus - letztere bezeichnete er auf öffentlichen Veranstaltungen schon mal als Lügner. Die Anwesenden schluckten seine Kritik. Wer wollte es auch schon wagen, gegen Max Mannheimer aufzustehen - selbst Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) verwandelt sich in seiner Gegenwart zu einem aufmerksamen Schüler.

Dem Charme und Humor Mannheimers widersteht ohnehin kaum jemand. Wenn er mit schlohweißer Haarmähne, im dunklen Dreireiher, mit exakt gebundener Krawatte und rotem Schal auftritt, glaubt man, einen Bühnenschauspieler oder Dandy vor sich zu haben - wäre da nicht die Geschichte des Massenmords an sechs Millionen Juden. Darum geht es ihm. 2009 initiiert er mit den Präsidenten anderer NS-Opferverbände das "Vermächtnis der Häftlinge deutscher Konzentrationslager", das der Politik Orientierung gäbe, wenn sie es denn annehmen würde.

Er protestierte öffentlich, dass Russlands Präsident Vladimir Putin nicht zur 70-Jahr-Feier der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee eingeladen wurde. Denn, so sagte er, die geschichtliche Wahrheit dürfe nicht aktuellen politischen Krisen geopfert werden. Es macht ihm aber schon Freude, die Verhältnisse ein bisschen aufzuwirbeln. Anderntags sagt er dann lachend: "A Hund bin i scho."

"Ich weiß, dass es eine Utopie ist, die Menschen verbessern zu wollen. Dennoch glaube ich an das Gute im Menschen." Dafür musste er auch Kritik einstecken, etwa als er 2012 den Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft annahm. "Manche Freunde haben meine Versöhnlichkeit als Schwäche ausgelegt. Sie sagten, ich mache es meinen Zuhörern zu leicht. Diesen Vorwurf konnte ich nicht nachvollziehen. Es ging mir immer um Aufklärung, nie um Schuldzuweisung." Und dann ist da noch dieser Satz: "Ich konnte nie hassen." In der Wärme seines Blicks sah man Güte, gelegentlich leuchtete etwas Spott auf, vor allem aber Liebe. Nur wenn er einen rassistische Äußerung hörte, dann sprühten seine Augen vor Zorn. Wie ein zürnender Gott erhob er seine Stimme.

In den letzten Jahren seines Lebens machten die Knie nicht mehr mit, er brauchte einen Rollstuhl. Dennoch nahm der unermüdliche Mahner und Erinnerer noch viele Zeitzeugengespräche auf sich. "Das einzige, was ich bereue, ist, dass ich nicht 120 werden kann. Ich habe doch noch so viel vor", sagte er noch vor einem Jahr. Dazu kommt es jetzt nicht mehr. Am Freitagnachmittag, um 16.45 Uhr, ist Max Mannheimer im Alter von 96 Jahren gestorben.

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