Nach der Bluttat von Dachau:Stadt unter Schock

Alle Verhandlungen am Amtsgericht Dachau sind abgesagt, Übertragungswagen der Fernsehsender drängen sich auf dem Schlossplatz: Am Tag nach den tödlichen Schüssen auf einen Staatsanwalt herrscht Fassungslosigkeit in der Stadt.

Viktoria Großmann, Matthias Pöls, Gregor Schiegl und Helmut Zeller

Die Sonne scheint am Tag danach, ein Blumengesteck liegt auf den Stufen vor dem Gebäude des Amtsgerichts. Im Andenken an Tilman T. Der junge Staatsanwalt war tags zuvor von einem 54-Jährigen mit einer Pistole so schwer verletzt worden, dass ihn auch die Ärzte im Dachauer Klinikum nicht mehr retten konnten. Die Schüsse fielen im Gerichtssaal - während der Verhandlung. Ein Justizwachmeister sagt: "Das ganze Haus steht unter Schock."

Staatsanwalt im Gerichtssaal erschossen

Stille Trauer: Ein Blumengesteck liegt vor dem Eingang des Amtsgerichts in Dachau.

(Foto: dpa)

Am Donnerstag gibt es keine Verhandlungen. Die ganze Woche gibt es keine, ein Zettel an der Tür weist darauf hin. Trotzdem geht der Betrieb weiter: Ein Gerichtsdiener betritt das Gebäude durch den Hintereingang. Obwohl er im Saal war, als es passierte. Und er wirkt immer noch geschockt. Aber daheim, sagt er, falle ihm nur die Decke auf den Kopf.

Draußen auf dem Schlossplatz, wo sich der Haupteingang befindet, erfüllt das Brummen der Generatoren die Luft. ZDF, RTL, N24 - alle haben ihre Übertragungswagen in Stellung gebracht. Aber es gibt nicht viel zu sehen. An der Tür haben sie einen Hinweis angebracht, dass im Gerichtsgebäude das Fotografieren "ausdrücklich" verboten ist. Und durch die Fenster ins Innere zoomen wie noch am Abend zuvor, als Polizisten in Schusswesten und Kriminaltechniker in weißen Anzügen durchs Gebäude liefen - das geht nicht mehr: Die Sonnenblenden sind heruntergezogen, alles ist dicht.

Trotzdem wird es natürlich große Berichte geben, bundesweit. Der ehemalige Stadtrat Wolfgang Gerstner fürchtet, dass Dachau "wieder negativ in die Schlagzeilen" gerät. "Da heißt es dann wieder: Ihr Dachauer. Dabei können wir gar nichts dafür, wenn da so ein Irrer um sich schießt."

Ein Dutzend Stunden zuvor, am Mittwoch: Im Foyer vor den beiden Verhandlungsräumen warten der Jugendgerichtshelfer, der Angeklagte, die Protokollantin, zwei Gerichtsreporter und ein Zuhörer, dass die Verhandlung im Saal D weitergeht. Nebenan in Saal C läuft parallel die dritte Hauptverhandlung gegen Rudolf U., der Transportunternehmer soll Sozialbeiträge in Höhe von 44.000 Euro nicht abgeführt haben. Selbst für die lokale Presse ist dieser Fall zu unspektakulär, um darüber zu berichten.

Im Foyer schäkert der Jugendgerichtshelfer mit dem Angeklagten, einem athletischen jungen Mann mit kantigen Gesichtszügen und kurz geschorenen Haaren. Er soll am Dachauer Bahnhof einem anderem Mann drei Zähne mit einem Schlag herausgebrochen haben. Fälle wie diesen gibt es in jeder Sitzungswoche. Alltag am Dachauer Amtsgericht.

Es ist 16 Uhr. Ein Knall aus Saal C. Alle starren auf die Tür. Wird da ein Stuhl auf den Tisch geschlagen? Es klingt nach einem harten Schlag, als ob Metall auf Holz trifft. Kurz aufeinanderfolgend knallt es noch zweimal: Schüsse. Es sind Schüsse! Alle rennen um ihr Leben, geduckt. Die Protokollantin und ein Reporter flüchten die Treppe hinunter. Der Jugendgerichtshelfer rennt in die Toilette, sperrt sich ein. "Es hätte ja auch ein Amokläufer sein können", sagt er später.

Einen Augenblick später zieht ein Mann die Tür von Saal C einen Spalt weit auf. Aber bevor er die Tür ganz öffnen kann, wirft er sich zu Boden. Weitere Schüsse fallen, zwei oder drei. Dann ein Rumpeln. Vermutlich ist das der Moment, in dem zwei Zollbeamte, die als Zeugen der Verhandlung im Saal sind, Rudolf U. überwältigen. Dann herrscht für einen Moment Totenstille in den Räumen des Dachauer Amtsgerichts.

Mit kreidebleichem Gesicht stürmt der Protokollant heraus: "Ich hab's gewusst, dass was passieren wird, ich hab's gewusst!" Später wird die Protokollantin aus Saal D zu ihrem schockierten Kollegen sagen: "Gut, dass wir getauscht haben." Die beiden Gerichtshelfer müssen schon zuvor ein schlechtes Gefühl bei Rudolf U. gehabt haben.

Als zwei Polizisten ihn später aus dem Gebäude führen, ist sein Blick starr auf den Boden gerichtet. Der rechte Mundwinkel hängt schlaff herunter. Die Beamten müssen ihn stützen. U. ist seit einem Schlaganfall gehbehindert, anscheinend teilweise gelähmt. Ständig kaut der 54-Jährige auf der Unterlippe. In dunkelblauer, schlabbernder Trainingshose und einer braun-schmutzigen Jacke war er zum Verhandlungstermin erschienen. Als Strafe hätte ihn ein Jahr auf Bewährung erwartet. Und dann zieht so jemand eine Waffe und schießt um sich.

"Mit so etwas rechnet doch keiner"

"Mit so etwas rechnet da dann doch keiner", sagt eine Zeugin. In Saal C herrscht Chaos. Tische und Bänke sind verschoben. Sie waren die Deckung, hinter der sich auch Richter Lukas N. gerettet hat, auf den U. ebenfalls Schüsse abgefeuert hat.

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Am Tag nach der Bluttat stehen die Dachauer unter Schock. Am Amtsgericht sind alle Verhandlungstermine für diese Woche abgesagt.

(Foto: dpa)

In der Stadt wirkt das Entsetzen über die Bluttat des Speditionsunternehmers nach. Am Donnerstag sagt Stadträtin Christine Unzeitig (CSU) erschüttert: "Da fühlten wir uns in unserer Stadt sicher, und dann so etwas." Da müsse man ja befürchten, dass ein Wahnsinniger, der sich ungerecht behandelt fühle, auch mal in den Stadtrat komme und um sich schieße. Unzeitig war am Mittwoch zur Tatzeit in der Altstadt. Allein schon die pausenlosen, kreischenden Sirenen der Polizei, die zum Amtsgericht am Schlossberg rasten, haben sie und andere Passanten in Furcht versetzt. "Um Gottes willen, was ist denn in unserer Stadt nur los", hätten die Menschen gesagt. Auf dem Neujahrsempfang des Ärztlichen Kreisverbandes in Dachau gibt es nur ein Thema: die Schüsse.

Steffen S. arbeitet für das Hauptzollamt in München. In dieser Zeit ist er noch nie mit einer Waffe angegriffen worden. Dass er am Mittwoch im Gerichtssaal gemeinsam mit einem weiteren Zeugen, der für die Deutsche Rentenversicherung im Bund arbeitet, den Mann, der auf den Staatsanwalt schoss, überwältigen konnte, war sehr mutig. Und gelang vor allem auch wegen seiner Ausbildung: mindestens zweimal im Monat trainieren die Beamten, wie sie sich im Falle eines Angriffs verhalten müssen. Waffenlose Selbstverteidigung nennt sich das.

Zu seiner Zeugenaussage erschien er in Zivil - ohne Waffe. S. war der Sachbearbeiter des Falles, "ein Standardfall", wie ihn auch der Sprecher des Hauptzollamts, Thomas Meister, nennt. Steffen S. war einer von drei geladenen Zeugen, von denen offenbar nur zwei erschienen. Zur Verhandlung begleitete S. eine Kollegin aus dem Zollamt. "Dass auf unsere Beamten geschossen wird, ist sehr selten", sagt Meister. Ihm sei das doch nie untergekommen, und er ist immerhin schon seit 15 Jahren dabei. Angegriffen werden die Beamten jedoch häufiger während ihrer Arbeit am Flughafen oder auf Durchsuchungen. Auf diesen Außeneinsätzen tragen die Beamten eine Schusswaffe bei sich. Steffen S. und seine Kollegin werden vom psychologischen Dienst der Polizei betreut.

Auch der Betriebsprüfer der Rentenversicherung steht unter Schock und möchte sich öffentlich nicht äußern. Anders als der Zollbeamte war er nicht trainiert, mit einem solchen Angriff umzugehen. Bei der Rentenversicherung ist "keine einzige Handgreiflichkeit" gegenüber Mitarbeitern bekannt.

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