Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in Unterkunft:Zeugen, die nichts wissen wollen

Ein 33-Jähriger soll in einem Karlsfelder Flüchtlingsheim ein vierjähriges Mädchen sexuell missbraucht haben. Die Indizien wiegen im Prozess schwer, doch die Beweisaufnahme läuft schleppend.

Aus dem Gericht von Christiane Bracht

Umringt von Plexiglas sitzt der 33-jährige Angeklagte vor dem Landgericht München II und schweigt. Der Vorwurf gegen ihn: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern. Laut Staatsanwaltschaft soll er sich Mitte Mai 2018 in Karlsfeld an einer Vierjährigen vergangen haben.

Zum Tatvorwurf sagt der Mann aber nur, er habe keine Erinnerung mehr an diesen Tag. Und so muss ein Zeuge nach dem anderen aufmarschieren und seine Version der Geschehnisse vom 23. Mai erzählen: die Mutter des Kindes, der Betreuer des Asylheims, in dem sich der Vorfall ereignet haben soll, die Betreuerin der Caritas, ermittelnde Polizeibeamte und Gutachter. Es kommt auf jedes Detail an. Manch einem sind die Fragen sichtlich unangenehm. Doch Richterin Regina Holstein lässt nicht locker. Und langsam ergibt sich ein Bild von dem, was wohl geschehen sein muss.

Die 25-jährige Bewohnerin hatte an jenem Vormittag einen Termin bei der Caritas. Sie nahm ihre Tochter mit zur Beratung. Doch irgendwann musste die Kleine auf die Toilette. Sie verschwand und kam nicht wieder. Beunruhigt suchte die Mutter nach dem Mädchen. Schließlich fand sie die Vierjährige heulend auf einer Treppe im Karlsfelder Flüchtlingsheim an der Parzivalstraße. Die 25-Jährige war entsetzt von dem, was ihre Tochter ihr berichtete und rannte sofort zum "Kümmerer" der Asylunterkunft.

"Sie erzählte mir von sexuellen Handlungen, die der Angeklagte vorgenommen haben soll, aber an den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern", berichtet der Mann vor Gericht. Das ist Richterin Holstein zu wage. "Das Kind hat nur stückchenweise erzählt und mit den Händen immer wieder nach unten gedeutet", sagt der 70-jährige Betreuer. "Ich habe nur mitgekriegt, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein muss." Deshalb habe er sich an die Caritas gewandt, die für Probleme in der Unterkunft zuständig ist. "Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll." Später rief er die Polizei.

Die Details der Tat sind wichtig für die rechtliche Beurteilung und damit auch das Strafmaß

Der Angeklagte sei seit März 2016 in der Karlsfelder Unterkunft gewesen, ein Nachbar der alleinerziehenden Mutter. "Er war friedfertig und ruhig", erzählt der Betreuer. Die 25-jährige Mutter habe immer wieder Männer mit aufs Zimmer genommen - verbotene "Fremdschläfer". Die Nachbarn hätten sich deshalb öfter beschwert. Nach dem Vorfall wollte er die Verlegung des 33-Jährigen in eine andere Unterkunft, obwohl dieser das abgelehnt habe, berichtet der Betreuer. Doch als der Angeklagte seine Sachen packen sollte, war er "ein paar Tage untergetaucht".

Minutiös hat der 70-Jährige alles dokumentiert, Organisatorisches weiß er präzise. Doch auf den Inhalt dessen, was das Kind und seine Mutter ihm vor zwei Jahren erzählten, will er nicht so recht eingehen. "Mein Englisch ist nicht so gut", schützt er vor. Erst nach und nach entlockt ihm die Richterin, dass der 33-Jährige das Kind in sein Zimmer gelockt haben soll. Dort habe er ihr das Höschen ausgezogen und sie im Genitalbereich berührt, nicht nur mit den Fingern, sondern auch mit der Zunge.

Der Verteidiger hakt immer wieder nach. Er will genau wissen, was mit den Fingern passiert ist. Und vor allem, was das Kind gesagt hat und was die Mutter. Für ihn ist es ein entscheidendes Detail. Davon hängt die rechtliche Einordnung ab: Handelt es sich um einen einfachen Missbrauch oder einen schweren. Letzterer wird laut Gesetz mit einer Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren geahndet.

"Es ist ein sehr aufgewecktes Kind", erzählt der Polizist, der die Vernehmung übersetzte. "Sie hatte keine Scheu vor uns und hat viel gekichert, aber es war eher ein Verlegenheitskichern." Sie habe viel durch Gesten geantwortet. "Wir haben uns bemüht, die Fragen vage zu halten, um sie nicht suggestiv zu beeinflussen." Er bestätigt im Wesentlichen die Aussage des Betreuers. Der Angeklagte habe indes "vehement bestritten, dass das Kind überhaupt in seinem Zimmer war".

Die Vierjährige musste noch am selben Tag zur rechtsmedizinischen Untersuchung. "Sie weinte", erzählt die Medizinerin. Wohl weil sie Schmerzen hatte. Schwere Verletzungen konnte die Gutachterin nicht feststellen, aber Rötungen. Eine Biologin fand unter den Fingernägeln und der linken Hand des Angeklagten DNA-Spuren vom Mädchen, ebenso in seinem Mund. Umgekehrt war männliche DNA an der Kleinen. Diese gäben jedoch keinen konkreten Hinweis auf ein Ejakulat, so die Biologin. Seit Oktober 2018 sitzt der Angeklagte in Untersuchungshaft. Die Verhandlung wird fortgesetzt.

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SZ vom 14.08.2020/huy
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