Am Freitagvormittag schreitet eine 16-jährige Schülerin in den Saal B 275 des Landgerichtes München. Im Zeugenstand nimmt sie Platz und spricht aus, was in diesem außergewöhnlichen Prozess gesagt werden muss. Dass sie und andere Schulkameraden im Februar 2019 im Rahmen eines Seminars die KZ-Gedenkstätte Dachau besuchten, den Ort, an dem die Nazis mehr als 41 500 Menschen umbrachten. Dass die Angeklagten, Nikolai Nerling und dessen Kameramann, auf die Gruppe zukamen. Dass Nerling, der sich als der "Volkslehrer" in der rechtsradikalen Szene Deutschlands einen Namen gemacht hat, zu ihnen sagte: "Wir sollen nicht alles glauben, was uns hier erzählt wird." Richter Johannes Feneberg fragt, wie sie diese Aussage damals interpretiert habe. Die Schülerin antwortet, Nerling habe auf die NS-Zeit angespielt. "Ich habe es als Verleumdung des Holocaust interpretiert, auch wenn das Wort Holocaust nie gefallen ist."
Es sind die Zeugenaussagen von 16- und 17-Jährigen, die diesen Prozess gegen einen der bekanntesten Rechtsextremisten Deutschlands viele Stunden später am Freitagabend entscheiden werden. Um 22.07 Uhr erheben sich die Anwesenden im Saal B 275, und Richter Johannes Feneberg verkündet das Urteil. Das Landgericht München verurteilt den rechtsextremen Videoblogger Nikolai Nerling wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe in Höhe von 6000 Euro (150 Tagessätze). Richter Feneberg spricht Nerling schuldig, bei seinem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau im Februar 2019 den Holocaust gegenüber der Schülergruppe geleugnet zu haben. Nerling wisse normalerweise, sich an der Grenze des Sagbaren zu bewegen, sagt Feneberg. "In diesem Fall wusste er es nicht." Nerling habe zu den Schülern gesagt, sie sollten nicht alles glauben, was erzählt werde. Vor dem Hintergrund des Ortes und der Umstände sei klar, dass das, was man nicht glauben solle, sich auf den Holocaust beziehe. Zudem habe Nerling mit seinem Verhalten in der Gedenkstätte die Schüler eingeschüchtert. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Nerling hat auf seinem Telegram-Kanal angekündigt, in Revision zu gehen.
Das Berufungsverfahren gegen Nerling und seinen Kameramann dauert an beiden Verhandlungstagen bis in die späten Abendstunden. Einerseits der ständigen Pausen wegen, in denen Justizbeamte die Fenster öffnen, damit sich die Aerosole im Saal verflüchtigen. Andererseits weil das Gericht den Verteidigern bei der Befragung der Zeugen äußert viel Zeit einräumt und auf einige Anträge penibel eingeht. Es ist der Versuch, zumindest in diesem Prozess keine Verfahrensfehler zu begehen. Rechtlich bewegt sich diese Verhandlung ohnehin auf einem heiklen Gebiet.
Immerhin der Sachverhalt ist unstrittig: Nerling und sein Kameramann waren im Februar 2019 nach Dachau gekommen, um gegen den angeblichen "Schuldkult" zu filmen. Dabei erkannte ihn eine Referentin der Gedenkstätte, die gerade eine Schulklasse über das Gelände führen wollte. Sie hatte ihn zuvor auf einer rechtsextremen Demo in Bielefeld beobachtet, über die sie als Journalistin berichtete. Anschließend alarmierte sie die Verwaltung der Einrichtung und musste die Schülergruppe kurz alleine lassen.
Währenddessen schlug Nerling das Tor des ehemaligen Konzentrationslagers mit der zynischen Aufschrift "Arbeit macht frei" zu und rief den Schülern dahinter zu, dass sie jetzt eingesperrt seien. Eine Respektlosigkeit und Verhöhnung nicht nur der mehr als 41 500 Menschen, welche die Nazis in dem KZ Dachau umbrachten, sondern auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus.
Mehrere Schüler belasten Nerling in der Verhandlung schwer. Sie berichten, Nerling habe zu ihnen gesagt, sie sollten nicht alles glauben, was ihnen in der KZ-Gedenkstätte erzählt werde. Eine 16-Jährige sagt sogar, Nerling habe zu ihnen gesagt: "Wir sollen uns hier nicht manipulieren lassen, weil das meiste ist eh Quatsch, was hier passiert ist." Zwar hat Nerling laut den Schülern niemals die Worte "Holocaust", "Schoah" oder "Gaskammern" verwendet noch konkrete Opferzahlen genannt. Doch mehrere Jugendliche geben in ihren Zeugenaussagen an, sie hätten die Aussagen so interpretiert, als beziehe sich Nerling darin auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und besonders in den Konzentrationslagern.
Es ist die klassische Methode von Nikolai Nerling und anderen Rechtsextremen: In der Öffentlichkeit robben sie sich an den Grenzen des Sagbaren entlang. Sie machen Anspielungen, nennen Stichworte, stellen suggestive Fragen oder geben Leugnern der Schoah eine Bühne. Sie selbst leugnen den Holocaust nicht explizit, weil dies strafbar wäre. Doch ihr Publikum weiß genau, was gemeint ist.
Die Verhandlung vor dem Landgericht kreist um die Frage, ob Nerlings Verschleierungsaussagen rechtlich als Volksverhetzung und damit als Holocaustleugnung zu werten sind, auch wenn er Worte wie "Holocaust" oder "Schoah" nicht explizit sagt. Das Amtsgericht Dachau hatte diese Frage im Dezember 2019 bejaht und ihn auch wegen Hausfriedensbruch zu einer Geldstrafe in Höhe von 10 800 Euro verurteilt. Auch Nerlings Kameramann wurde damals in Dachau der Beihilfe zur Volksverhetzung schuldig gesprochen. Gegen das Urteil war Nerling rechtlich vorgegangen.
Im Berufungsverfahren halten die Anwälte der Angeklagten lange Plädoyers, in denen sie vor allem das Urteil des Dachauer Amtsgerichts als unrechtmäßig darstellen. Dieses sei eine "Abstrafung für die Gesinnung meines Mandanten", sagt Nerlings Anwalt. Die Verteidiger sprechen von einem "politischen Prozess". Die Medien hätten eine "Empörungswelle" losgetreten und so öffentlichen Druck auf die Gerichte aufgebaut, die deshalb gar nicht anders könnten, als ihre Mandanten zu verurteilen. "Wir machen hier kein Gesinnungsstrafrecht", hält ihnen Feneberg später entgegen. Es sind Verschwörungsmythen, die vor allem in den Echokammern Anklang finden sollen, die Nerling mit seinem Videos bedient. Die Anwälte plädieren auf Freispruch. Dagegen fordert der Staatsanwalt eine sechsmonatige Haftstrafe für Nerling. "Dachau ist das zweitbekannteste KZ nach Auschwitz. Es ist ein Symbol für den Holocaust an sich", sagt er. Es sei schwierig, Nerlings Äußerungen gegenüber den Schülern anders zu verstehen.
Ein wichtiger Strafantrag fehlt
Schließlich wird Nerling wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt, die geringer ausfällt als beim Urteil des Amtsgerichtes. Im Berufungsverfahren folgt das Landgericht dem Amtsgericht Dachau damit nur bedingt. Zwar ist Nerling nach wie vor schuldig, den Holocaust mit seiner Aussagen gegenüber den Schülern geleugnet zu haben. Doch es spricht ihn frei vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs. Der Hintergrund dazu wirft einige Fragen auf, auf die es in den nächsten Wochen Antworten geben muss. Die Gedenkstätte hatte im Februar 2019 bei der Polizei Dachau Nerling und seinen Kameramann wegen Hausfriedensbruchs angezeigt. Doch der dazugehörige Strafantrag der Gedenkstätte gegen Nerling ist verschwunden. Nur noch der Strafantrag gegen Nerlings Kameramann liegt vor.
Die Polizistin, die damals im Einsatz war, sagt vor Gericht: "Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass beide Anträge gestellt wurden." Wie es sein kann, dass ein Strafantrag nicht zu den Akten gelangt, könne sie sich nicht erklären. Doch dem Gericht unter dem Vorsitzenden Feneberg reicht diese Aussage nicht aus. "Der Strafantrag ist nicht da und wir wissen nicht, ob es ihn gab", sagt der Richter. Während Nerling vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs deshalb freigesprochen wird, wird sein Kameramann schuldig gesprochen. Er bekommt eine Geldstrafe in Höhe von 1500 Euro (50 Tagessätze). Anders als vor dem Amtsgericht Dachau spricht ihn das Landgericht aber frei, Beihilfe zu Volksverhetzung geleistet zu haben.
Die Angeklagten schweigen die meisten Zeit. Sie sitzen hinter Plexiglasscheiben, hören zu, was die Zeugen aussagen. Doch konkret zu den Vorwürfen wollen sie sich lange nicht äußern. Erst als ihnen Feneberg um kurz vor 20 Uhr das letzte Wort erteilt, beginnen sie zu sprechen. Der Kameramann distanziert sich von Nerling. Er habe die Zusammenarbeit mit dem "Volkslehrer" beendet, sagt er. Dessen Arbeit sei ihm zu politisch geworden. "Meine Motivation war es, kulturelle Videos zu machen", sagt er. Seine Stimme zittert. Das Gericht hält diese Aussage nicht für überzeugend. Nerling und sein Kameramann wollten gegen den "Schuldkult" filmen. "Das wird nicht zum kulturellen Video, nur weil das Wort Kult darin vorkommt", sagt Feneberg.
Um 19.50 Uhr bekommt schließlich Nikolai Nerling seine große Bühne. Auch bei ihm zittert die Stimme. Er habe den Menschen mit den Anti-Schuldkult-Videos etwas Gutes tun wollen. "Ich wollte ihnen das Gefühl der Schuld nehmen." Dann spricht er über seinen Vater. Dieser habe ihn antifaschistisch erzogen. Er habe gedacht, es sei nicht gut deutsch zu sein. Doch er habe begriffen, dass er sich dessen nicht zu schämen brauche. In seinem Schlussstatement geriert sich Nerling als Kämpfer für die Meinungsfreiheit. "Es ist schlimm, in der BRD rechts zu sein. Wenn Rechte ihre Meinung sagen, missbrauchen sie das Recht auf Meinungsfreiheit." Menschen wie er würden ums Überleben kämpfen. Er habe den Schülern nur sagen wollen: "Hinterfragt Dinge ganz generell." Zum Abschluss der großen "Volkslehrer"-Show rezitiert Nerling im Gerichtssaal das Knecht-Ruprecht-Gedicht: "Von draußen, vom Walde komm ich her..." Als Nerling fertig ist mit seinem Gedicht, wird im Saal noch einmal kräftig durchgelüftet.