Süddeutsche Zeitung

KZ-Außenlager Mühldorf:Späte Einsicht

Jahrzehntelang lehnen Bund und Freistaat eine Gedenkstätte im ehemaligen Dachauer KZ-Außenlager Mühldorf ab. Dann sprechen der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer und ehemalige SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel mit Horst Seehofer - jetzt ist der Weg frei

Von Anna-Sophia Lang, Mühldorf/München

Im Morgengrauen des 6. Juni 1944 landeten die ersten Truppen der Alliierten an den Stränden der Normandie. Mehr als 1000 Kilometer davon entfernt, im oberbayerischen Mühldorf, begannen am selben Tag Arbeiter mit der Rodung eines Waldes. In jenem Wald, dem Mühldorfer Hart, sollte ein überirdischer Bunker entstehen. 400 Meter lang, 32 Meter hoch, mit einer Sohlenbreite von 85 Metern. Düsenflugzeuge vom Typ Messerschmitt 262 sollten dort gebaut werden und doch noch die Wende im schon verlorenen Krieg bringen. So entstand in den letzten neun Monaten einer der größten Außenlager-Komplexe des Konzentrationslagers Dachau. Der Codename des Bunkerprojekts: Weingut I. 8300 Menschen, vor allem ungarische Juden, mussten dort bis April 1945 als Sklavenarbeiter schuften. Die Häftlinge schleppten 50 Kilo schwere Zementsäcke zu den Betonmischmaschinen auf der Baustelle. Täglich starben halb verhungerte, kranke und erschöpfte Häftlinge oder wurden erschossen. Manchmal fiel jemand in den frischen Beton. Die Lebensbedingungen waren katastrophal. Fast 4000 Menschen überlebten nicht, über das Schicksal von 800 weiteren ist nichts bekannt.

70 Jahre später gibt es an diesem Ort noch immer keine Gedenkstätte. Einer der ursprünglich sieben Bunkerbögen steht noch, die anderen haben die Alliierten 1947 gesprengt. Wo einst das Lager Mettenheim stand, es war das Hauptaußenlager, befindet sich heute eine Wohnsiedlung. Deutliche Bodenreste gibt es noch vom Waldlager V und VI, wo Häftlinge von Dezember 1944 an in primitivsten Erdhütten hausen mussten. Vom Massengrab für mehrere tausend Menschen sind nur Mulden zu erkennen. "Dieser Ort zeigt den Größenwahn des verbrecherischen Naziregimes", sagt Hans-Jochen Vogel. Der ehemalige SPD-Oberbürgermeister von München und frühere Bundesjustizminister setzt sich seit Jahrzehnten gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden und Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees, Max Mannheimer, für eine Gedenkstätte ein. Vor 15 Jahren hat die damalige bayerische Kultusministerin, Monika Hohlmeier (CSU), Mannheimer eine Gedenkstätte bis zu seinem 90. Geburtstag versprochen. Mannheimer, Überlebender des KZ-Außenlagers, ist im Februar 95 geworden.

Auch Mühldorfer kämpften jahrzehntelang für eine Gedenkstätte, doch Bund und Freistaat lehnten immer wieder ab, verwiesen auf komplizierte Zuständigkeiten, Grundstücksverhältnisse und ungelöste Fragen der Finanzierung. Der Verein "Für das Erinnern" mit seinem Vorsitzenden Franz Langstein hat drei Info-Stelen angebracht, er organisiert Führungen, Gedenkveranstaltungen und pflegt den Kontakt zu Überlebenden. Davor schon hatte der Geschichtsverein Heimatbund Mühldorf die NS-Vergangenheit des Ortes thematisiert. Aber bis weit in die Neunzigerjahre hinein hätte der Bund den letzten Bunkerbogen am liebsten gesprengt und das Gelände planiert. Ein Konzept für eine Gedenkstätte, das der Verein "Für das Erinnern" dem Bund mit Hilfe von Kommunalpolitikern und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten im Jahr 2012 vorlegte, wurde abgelehnt. Heute erklärt Ulrich Fritz, Mitarbeiter der Stiftung, es habe lange der politische Wille gefehlt. Bis zu diesem Sommer.

"Der Freistaat steht zu seiner Verantwortung und wird die Realisierung der Gedenkstätte nun umgehend in die Wege leiten", teilte Staatskanzleichef Marcel Huber nach einer Klausurtagung des Regierungskabinetts am Tegernsee Ende Juli mit. Die unerwartete Wende kam nicht von ungefähr. Am Freitag vor der Klausurtagung traf sich Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) mit Max Mannheimer und Hans-Jochen Vogel. Bei dem Gespräch legte Vogel eine achtseitige Liste mit allen Schritten vor, die er seit 1981 unternommen hatte. "Seehofer hat prompt reagiert", sagt Vogel. Auf einmal war die Entscheidung, die vorher mit so vielen Rechtfertigungen nicht getroffen wurde, schnell gefällt. "Dass die Gedenkstätte jetzt gebaut wird, steht sicherlich in Verbindung mit dem entschiedenen Willen, den Seehofer gezeigt hat."

Noch in diesem Jahr soll die Stiftung mit dem Bau beginnen. Der Freistaat stellt 2,5 Millionen Euro zur Verfügung. Auch der Bund wolle sich finanziell beteiligen, sagt Fritz. Er würde gerne das Siegerkonzept des Gestaltungswettbewerbs von 2012 umsetzen. "Der Entwurf ist zurückhaltend und ohne großen Eingriff in historische Relikte." Das Konzept sieht einen Gedenkort in drei Teilen vor: Bunker, Waldlager und Massengrab. Wege und Stege machen sie begehbar. Im Vorfeld jedes der drei Areale soll ein dachloser Raum, einer Schleuse ähnlich, mit grundlegenden Informationen über den Gesamtkomplex des Lagers entstehen. Weil die Grundstücksverhältnisse bei Massengrab und Waldlager bereits geklärt sind, beginnt dort der Bau des Gedenkorts. Im Mühldorfer Kulturzentrum Haberkasten wird im November eine Dauerausstellung eröffnet. Sie soll die Hintergründe des Lagers ausführlicher beleuchten und wird von Landkreis und Stadt Mühldorf finanziert.

Eines hat Hans-Jochen Vogel in all den Jahren besonders am Herzen gelegen: Dass sein Freund Max die Eröffnung noch erlebt. Mannheimer kam im Februar 1945 nach Mühldorf. Als er sich im Lager Mettenheim mit Fleckfieber ansteckte, schien sein Schicksal besiegelt zu sein. Kranke Häftlinge wurden von der SS auf "Invalidentransporten" nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sein Bruder Edgar rettete ihn jedoch vor der Deportation. Als ihn amerikanische Soldaten nach seiner Befreiung wogen, brachte er 37 Kilogramm auf die Waage. Heute ist Max Mannheimer einer der aktivsten Zeitzeugen, bei Politikern, nicht zuletzt Seehofer, hoch geschätzt. Mannheimer hatte die Hoffnung aufgegeben: Er werde, sagte er 2011, die Eröffnung der Gedenkstätte nicht mehr erleben. Hans-Jochen Vogel hofft, dass sein Freund sich getäuscht hat.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2015
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