Süddeutsche Zeitung

Mitten in der S-Bahn:Eine Frage der Kopfhörer

Mit der richtigen Musik auf den Ohren könnte Bahnfahren eigentlich ganz entspannt sein. Aber es gibt leider auch Geräusche, die lassen sich einfach nicht ausblenden

Kolumne Von Johanna Feckl

Es wird mal wieder Zeit, etwas Liebes über dieses tägliche Ritual namens S-Bahn-Fahren zu sagen. Im Grunde genommen ist alles eine Frage der Wahl der Kopfhörer: Hat man die richtigen, haben die insgesamt 120 Pendelminuten morgens und abends Potenzial, die schönste Zeit des Tages zu werden. Ein Drücken der Playtaste in der digitalen Musikbibliothek lässt das Schmatzen des Typen rechts neben einem verstummen, den Röchelhusten der Frau auf dem Fensterplatz ebenso, und auch die Stimme des Mannes gegenüber, der am Telefon von seinen jüngsten Feiereskapaden berichtet. Stattdessen: 120 Minuten, in denen man auf einmal die Welt ganz anders sieht - natürlich nur, sofern man die richtigen Kopfhörer hat. Solche, die das Schmatzen, Husten und Quatschen völlig ausblenden.

Dann erkennt man: Der schmatzende Mann trägt Lederschuhe, auf seinem Schoß hat er einen Lederrucksack abgelegt. Ein edles Leder, beides haselnussbraun, farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Die hustende Frau hat zwei dicke schwarze Balken auf ihre unteren Lidfalten gemalt, sie trägt keine Wimperntusche. Dadurch entsteht die fixe Idee, dass ihre Augen jeden Moment wie in einem Cartoon nach unten hinauskullern könnten. Eine witzige Vorstellung. Und die Oberlippe des quatschenden Typen formt ein unfassbar schönes Lippenherz, spitz, aber nicht zu spitz. Solch harmonische Linien sind gewiss der Traum eines jeden Porträtmalers.

Es sind diese Entdeckungen, die die 120 Pendelminuten zu einer herrlichen Zeit werden lassen. Entdeckungen, die ohne die richtigen Kopfhörer im Verborgenen geblieben wären. Zu sehr hätte sich das elendige Schmatzen, Husten und Quatschen in den Vordergrund gedrängt.

Wovor einen aber auch die besten Kopfhörer nicht bewahren, ist ein ohrenbetäubendes Röhren, das einem anderen Fahrgast entfährt. Ein Rülpser, so laut, dass der gesamte Zug ins Wackeln zu geraten scheint. Zumindest eine Entschuldigung folgt prompt: "Mei, des hod jetzad sei miasn - war ja bloß a kloana."

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Quelle:
SZ vom 20.05.2019
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