Mitten in der  S 2:Zwiespältiger Genuss

Warum die Ruhe während einer Zugfahrt zur Wiesnzeit eher bedrückend ist

Von Benjamin Emonts

Es gibt Fahrten mit dem Öffentlichen Nahverkehr, die grauenhaft sind. Beispielsweise samstags, meist am frühen Nachmittag, wenn der FC Bayern Heimspiel hat. Mit der U-Bahn will man eigentlich nur zur Münchner Freiheit fahren, um sich bei einem Kumpel gemütlich das Auswärtsspiel seiner Löwen anzuschauen. Gemütlich! Doch dann steigt man in einen heillos überfüllten Waggon voller Bayern-Fans. Man sieht buchstäblich rot. An den Scheiben sammelt sich das Kondenswasser, es riecht nach Schweiß, im Rücken spürt man den Ellenbogen des Hintermanns, das Gesicht klebt quasi auf der Bayernkutte des Vordermanns. Und dann brüllt einem so ein Bayern-Fan ins Ohr: "Wer nicht hüpft, der ist ein Blauer, hey, hey." Einfach zum Ausrasten.

Ähnlich verstörend waren in den vergangenen Jahren S-Bahnfahrten von Dachau nach München, wenn dort gerade das Oktoberfest lief. Ein langer, anstrengender Arbeitstag lag hinter einem. Doch dann, wohin man auch schaute: Dirndl und Lederhosen. Alle Sitzplätze besetzt; das Feierabend-Bier im Bahnhofskiosk ausverkauft. Klar, bevor man die Wiesn überhaupt betritt, glüht man schon vor, was bei einem Bierpreis von mehr als zehn Euro auf dem Oktoberfest zugegebenermaßen nicht ganz abwegig ist. Die Stimmung in der Bahn war dementsprechend: es wurde gegrölt, gerülpst und geschubst. Die Fahrt wurde zur Qual, die erst an der Hackerbrücke ein Ende fand. Man fragte sich: Was war denn eigentlich anstrengender? Der lange Arbeitstag oder die 20 Minuten Zugfahrt?

Vor diesem Hintergrund erwiesen sich die ersten Tage des Münchner Oktoberfests als Wohltat. Die Züge am frühen Abend auf die Wiesn waren erstaunlich leer. Einen Sitzplatz zu bekommen - kein Problem. Eine Zeitung zu lesen, ohne von lautstarken Gesprächen über den gestrigen Wiesn-Aufriss oder den ultimativen Rausch abgelenkt zu werden - auch kein Ding.

Aber so richtig freuen kann man sich darüber nicht. Auch wenn man im ersten Moment aufatmet: Dazu sind die vermutlichen Gründe für das Mehr an Komfort und die entspannende Ruhe viel zu bedrückend.

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