S-Bahnfahren kann so schrecklich sein. Nicht nur dann, wenn man zum x-ten Mal in der Kälte auf den Zug wartet oder dem hysterisch weinenden pubertären Gör zuhören muss, was das Liebesleben gerade wieder für Gemeinheiten mit sich bringt. Auch Erwachsene haben ja mitunter keine Scheu, sich in der S-Bahn von Seiten zu zeigen, die man bei Fremden nun wirklich nicht kennenlernen möchte. So auch neulich eine etwa 30-jährige Frau, die offenbar auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch war. Oder zum Freund, so genau weiß man das ja auch immer nicht. In Schühchen und dickem Wintermantel betritt sie den Waggon und sucht sich einen der wenigen Vierersitze aus, in dem es sich schon eine Person bequem gemacht hat.
Sogleich beginnt sie, ihr Schminkarsenal auszupacken: Es wird gepudert, der Kajalstift gezückt, Lidschatten aufgetragen, Parfüm ausgekramt, die Lippen rot gemacht, und das halb auf dem Schoß des anderen Fahrgasts hängend. Die Frau hatte beim Einsteigen nämlich den Platz am Gang gewählt, den Schminkspiegel aber nicht vor sich positioniert, sondern auf dem Deckel des Mülleimers am Fenster. Dort also, wo der andere Fahrgast sitzt. Dass der etwas unangenehm berührt die Beine wegdreht, stört sie nicht. Sie hat andere Probleme: zwei Mitesser auf der Nase. Aber wo man schon so schön beim Aufhübschen ist, kann man da ja gleich Hand anlegen: Zack, ist der erste ausgedrückt, und zack, der zweite. Kurzer Griff ins Schminktäschchen, Abdeckstift herausgeholt, fertig. War was?
In dem Moment fährt die S-Bahn im Bahnhof ein. Noch ein kurzer, prüfender Blick in den Spiegel, dann packt die Frau schnell ihre Sachen zusammen und schafft es gerade noch, rechtzeitig den Zug zu verlassen. Der Fahrgast atmet indes auf, dass keine neue Reisebegleiterin zusteigt.