Süddeutsche Zeitung

Mitten in Dachau:Völlig mitgenommen

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An diesem Sonntag, 18. Oktober, ist der Internationale Tag der Mitfahrgelegenheit. Zeit für eine Abrechnung

Kolumne von Benjamin Emonts

Darf ich mitfahren? Als Kind sprach aus dieser Frage noch echte Vorfreude. Meistens stellte man diese Frage in seinem Heimatdorf auf dem Bauernhof seiner Wahl. Der kleine Junge stand dann an den Steigbügeln hinauf zur Kabine eines Traktors, der gefühlt ungefähr zwölf mal so hoch war wie er selbst. Die Aufregung war groß, doch fast immer stimmte der Bauer freundlich kopfnickend zu und sagte: "Kimm rauf." Oben angekommen saß man dann so stolz auf dem Beifahrersitz, als wäre man der größte Nachwuchsbauer der Welt. Man teilte sich Brotzeit und fragte den Bauern über Pflüge, Heupressen und Mähdrescher aus. Dort oben auf dem Traktor vergaß der kleine Junge völlig die Zeit.

Das "Mitfahren" jedoch änderte sich mit dem Älterwerden - und um ehrlich zu sein: Es wurde keineswegs besser. An diesem Sonntag, 18. Oktober, ist der Internationale Tag der Mitfahrgelegenheit, doch in diesem Fall sollte er heißen: "Internationaler Tag der Abrechnung mit der Mitfahrgelegenheit." Die Frage "Darf ich mitfahren?", stellte man als Erwachsener irgendwann bloß mehr im Internet auf den einschlägigen Portalen, die Mitfahrgelegenheiten beispielsweise von München nach Berlin organisieren. Ganz ohne Gefühle wechselte man ein, zwei Nachrichten und vereinbarte einen Treffpunkt für die Abfahrt. Die Gefühle regten sich dann ziemlich zuverlässig während der Fahrt auf der Autobahn - doch in der Regel waren es üble.

Die Erinnerungen sind noch sehr präsent. Ein Mann mit Mitte 40 fing beispielsweise nach Kilometer 200 an, rechtsradikales Gegröle von einer CD abzuspielen, dass einem ganz schlecht wurde. Auf eine kurze, sinnlose Diskussion folgte glücklicherweise stundenlanges Anschweigen (nie waren Kopfhörer wohltuender in den Ohren). Der andere Horror war der Raser. "Ich fahre relativ zügig", hatte er im Internet bereits geschrieben. Bei Nacht donnerte der Typ dann mit seinem tiefergelegten Sportwagen gefühlt mit Durchschnittstempo 250 über die Autobahn, sodass die Fliehkräfte einen nur so in den Sitz pressten. Alle artikulierten Sorgen um das eigene Wohl wurden von dem Mann freundlich ignoriert. Die Fahrtzeit von Berlin in die Münchner Innenstadt betrug schlappe drei Stunden und 20 Minuten. Beim Aussteigen musste man sich nach diesem Höllenritt erst wieder an die üblichen Schwerkraftverhältnisse gewöhnen.

Daneben gab es natürlich noch eine Reihe anderer kurioser Mitfahrgelegenheiten voller Unwägbarkeiten. Unvergessen bleibt das Surferpaar mit dem VW-Bus, das durch Europa reiste, aber wegen eines technischen Defekts leider eineinhalb Stunden zu spät zum Treffpunkt kam und auf halber Strecke kein Geld mehr für Sprit hatte. Alles kein Problem, die Musik der beiden war super. Dennoch blieb und bleibt es die vorerst letzte Fahrt mit dieser Art von Mitfahrgelegenheit. Umso trauriger, dass man für den warmen Platz an der Seite des Bauern inzwischen zu groß geworden ist.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2020
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