Süddeutsche Zeitung

Mitten in Dachau:Verdammt schöner erster Schultag

Lesezeit: 2 min

Die Idealisten unter den Kindern freuen sich aufs Lernen. Die anderen erkennen die Falle: Schultüte gegen Freiheit

Kolumne Von Anika Blatz

Einschulung - ein Ereignis, das in diesen Tagen für viele Buben und Mädchen von großer Bedeutung ist. Zum ersten Mal in die Schule gehen dürfen. Zum ersten Mal in die Schule gehen müssen. Diejenigen, die sich mit dem ersten Satz identifizieren, können sich glücklich schätzen. Sie gehören zu den Idealisten. Kleine Menschen, die Schule als einen Ort betrachten, an dem Lernen Spaß macht und an dem sie mit netten Gleichaltrigen Freundschaft schließen können. Für sie stellt die neue Episode eine Möglichkeit dar. Diese Einstellung wird ihnen in den folgenden Jahren das Leben immens erleichtern.

Diejenigen, die dem Wörtchen "müssen" zuneigen, das sind die Realisten. Sie verstehen gleich, dass der Schulgang kein Angebot ist, bei dem das Individuum aus freiem Willen heraus entscheiden darf, ob es dieses annimmt oder doch lieber noch ein bisschen im Kindergarten bleibt. Sie wissen, dass es sich beim ersten Schultag um eine von den Erwachsenen hübsch inszenierte Falle handelt. Ein Trojanisches Pferd von der schlimmsten Sorte: Schultüte gegen Freiheit. Aufstehen um sechs Uhr. Schulaufgaben, Abfragen, Leistungsdruck. Der Anfang vom Ende.

Wer am Dienstagnachmittag im Dachauer Schlossgarten unterwegs war, konnte eine wunderbare Szene beobachten: Ein adrett rausgeputztes Mädel im Dirndl sollte da für die aufgekratzte Fotografenmama auf dem Rasen posieren. Die Schultüte in ihren Armen verriet, dass die Falle zugeschnappt ist, das grimmige Gesicht des jungen Freigeists, dass sie zu den Realisten gehört. "Jetzt stell dich mal ordentlich hin und schau freundlich", gab die Regisseurin Anweisungen - dabei wohlgemerkt im Schotter kniend, um den denkwürdigen Moment aus dem richtigen Winkel in Szene zu setzen. Genervt schnaubte das Kind und fing an zu motzen. Richtig so. Schlimm genug das alles. Dabei noch ein freundliches Gesicht machen zu sollen, grenzt an Quälerei. Schluss mit dem Schmierentheater mit viel zu viel Gedöns, Tamtam und falscher Begeisterung. Genug der aufgeregt-überdrehten Eltern, die auf ihr falsches Spiel auch noch stolz zu sein scheinen und ihre eigene Schulzeit entweder verdrängt, verklärt oder den Idealismus nicht an den Nachwuchs vererbt haben.

Es gibt nicht viele, die beim Anblick der armen Tropfe mit ihren kleinen Zahnlücken und riesigen Schulranzen die Erinnerung an jenen Septembertag zulassen, an dem sie vor Verzweiflung über ihr besiegeltes Schicksal Stühle und Schulbänke umwarfen. Oder auf dem Weg zur Einschulung die Mutter beknieten, doch bitte die Abmeldung von diesem Himmelfahrtskommando zu veranlassen.

Zeit für ein wenig Mitgefühl mit all den desillusionierten Realisten in den ersten Klassen. Und mit denen, die sich den ungeschönten Erinnerungen an ihre Schulzeit stellen.

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Quelle:
SZ vom 14.09.2019
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