Süddeutsche Zeitung

Mitten in Dachau:Papagei mit Schuhen

Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden und, wenn es stimmt, was man so liest, können sie sich auch weiterentwickeln. Und die Trotzphase ist hoffentlich auch irgendwann wieder vorbei

Glosse von Gudrun Passarge

Geschmack ist bekanntlich subjektiv, und das ist auch gut so, sonst würden vielleicht alle in der gleichen Uniform herumlaufen und die Welt wäre ein Stück weit weniger bunt. Problematisch wird es allerdings, wenn Geschmäcker aufeinanderprallen, besonders wenn es dabei um eine Großmutter, eine Mutter und eine Enkelin geht. Seit etwa einem Monat spielt sich jeden Morgen das gleiche Drama ab. Die Mama sucht die Kleider aus und legt sie der Oma hin, damit sie das Kind für den Kindergarten fertig macht. Doch das vierjährige Kind hat seit neuestem eine extreme Spitzfindigkeit entwickelt, was die Kleiderwahl betrifft. Der Schnitt der Unterhose gefällt ihr nicht, das Unterhemd ist zu klein, die Socken gehen zu weit hoch und Pullover und Hose kratzen. Da hilft alle Überredung nicht. Also gibt es viel Geschrei und Tränen beim Kind und gestresste Nerven bei der Großmutter.

So kam es zu dem Deal, dass die Mutter am Abend noch die Kleider zusammen mit dem Kind aussucht. Guter Gedanke, aber die Großmutter hat die Rechnung ohne die Regeln der Trotzphase gemacht. Gerade noch lobt das Kind die tollen Einhörner auf dem Pullover und zieht ihn an, schon schaut sie an sich herunter und stellt fest, "ich schau aus wie Specki" und heult los. Nur weil der Pullover noch etwas groß ist. Oder das schwarze nette Kleidchen, das in der Hüfte auseinandergeht, um am Knie wieder etwas enger zu werden, kombiniert mit einem weißen Jäckchen. Nein, schreit sie los und betrachtet sich im Spiegel, "ich seh aus wie eine Birne, eine schimmelige Birne!"

Da hat die Großmutter ein Erbarmen, denn als schimmelige Birne möchte sie das Kind nun doch nicht in die Welt hinausschicken. Sie lässt die Enkelin selbst die Kleider aussuchen und verzieht keine Miene, als sie schließlich aussieht wie ein Papagei, der in den Farbtopf gefallen ist, wie ein glücklicher Papagei. Immerhin mit den Schuhen, die die Großmutter ausgesucht hat.

Was soll's denkt sie. Geschmack, so hat sie gelesen, kann sich entwickeln. Und die Trotzphase, die ist hoffentlich auch irgendwann wieder vorbei.

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Quelle:
SZ vom 07.04.2021
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