Mitten in Dachau:Mit dem Blick der Herrschenden

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Die Stadt demokratisiert den Blick von oben und richtet eine Webcam ein. Die Bilder sind, nun ja, beruhigend

Kolumne Von Gregor Schiegl

Alles hat seinen Preis, das gilt auch für den Ausblick. In der Regel wohnt es sich deutlich günstiger mit dunklem Garagenhof vor der Nase als mit Bergpanorama. König Ludwig II. konnte es sich leisten, Schloss Neuschwanstein auf felsigen Höhen im Allgäu zu errichten, statt im Gewerbegebiet Dachau Ost, das damals auch nur eine sumpfige Wiese war. Die Herrschenden wollen Überblick, weshalb auch das Rathaus in bester Randkantenlage am Altstadtberg thront. Bei langweiligen Sitzungen kann man den Blick über die Silhouette der Landeshauptstadt gleiten lassen, an Föhntagen schaut man bis in die Alpen. Das geht auch von den beiden Sitzungssälen im Amtsgericht aus, sogar von der Bank des Angeklagten, quasi als letzter Blick in die freie Welt.

Nun muss man kein Politiker sein oder eine Straftat begehen, um in diesen Genuss zu kommen. Man kann auch den Schlossberg erklimmen und runtergucken. Oder - das ist der digitale Fortschritt - man ruft die Bilder jetzt von der Webcam auf, die auf dem Rathausdach installiert wurde. Sie zeigt Dachau von oben, genauer gesagt die Untere Stadt. Alle zehn Minuten schießt sie ein neues Bild. Es ist auch ein Abspielen der einzelnen Fotos im Zeitraffer möglich, so dass "interessante Ereignisse in ihrem Ablauf dargestellt" werden können, wie die Stadt Dachau schreibt. Dazu zählt sie "Aufbau, Verlauf und Abbau des Volksfests". Für die wirklich interessanten Vorgänge bräuchte es allerdings einen kürzeren Takt, dann zum Beispiel, wenn ein Sturm das halbe Festzelt wegbläst oder eine Rotte irrer Raser mit heulenden Motoren über die Thoma-Straße fegt. Oder wenn ein besonders sportlicher Jurist mal wieder schnaufend mit dem Fahrrad den Karlsberg rauf strampelt - gegen die erlaubte Fahrtrichtung.

Der Blick der Herrschenden wird via Online-Link www.dachau.de/aktuelles/webcam-dachau.html auch dem einfachen Bürger zugänglich. Sogar Lufttemperatur, Feuchtigkeit, Windgeschwindigkeit und Kameraeinstellung werden angezeigt. Aber schnell merkt man, dass dieses Privileg so wahnsinnig toll auch wieder nicht ist. Es wird hell, es wird dunkel, Wolken ziehen vorbei und ab und zu ein Vogel, und nach vier Stunden hat sich der MVV-Bus auf der Thoma-Wiese tatsächlich fünf Meter bewegt. Dann geht's wieder von vorne los. Andererseits ist diese bleierne Langeweile auch beruhigend. Draußen in der großen Welt passiert schon mehr als genug.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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