Mitten im Zug:Gefangen in RB 59092

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Der Autor dieser Zeilen war alleine im Waggon eines fahrenden Zuges gefangen. Er hatte Zeit, über Einsamkeit nachzudenken

Kolumne von Thomas Radlmaier

Die Einsamkeit bemerkt man erst, wenn es zu spät ist. So ähnlich wie wenn man Auto fährt und plötzlich feststellt, dass die Bremsen kaputt sind.

Das, was kommt, ist kein Witz: Mittwochvormittag, München Hauptbahnhof. Regionalbahn 59092 rollt pünktlich um 9.24 Uhr von Gleis 24. Ich will in Dachau aussteigen. Es hätte mir vielleicht auffallen sollen, dass außer mir niemand in diesem Waggon im mittleren Teil des Zuges sitzt. Oder dass die Lichter aus sind. Aber wenn man in diesem täglichen Pendlerwahnsinn mal etwas Platz hat für sich, denkt man: Heute ist mein Glückstag.

Der Zug bremst. Komisch ist, dass die Ansage "Nächster Halt Dachau" fehlt. Und an der Tür, wo ich vorhin eingestiegen bin, klebt jetzt ein pinkfarbener Aufkleber: "Defekt". Ich laufe zu einer anderen Tür, doch auch die bleibt verschlossen. Der Zug steht inzwischen in Dachau, draußen am Bahnsteig sehe ich Menschen vorbeigehen. Ich sprinte durch die 1. und 2. Klasse hin und her. Auch die beiden Türen zu den Anschlusswaggons sind kaputt. Draußen pfeift der Schaffner, die Lok beschleunigt und mit der Geschwindigkeit steigt die Gewissheit: Ich bin eingesperrt. Regionalbahn 59092 ist mein Gefängnis.

Die Kollegin am Telefon sagt: "Der hält auch in Petershausen." Kurz überlege ich, die Notbremse zu ziehen. Dann suche ich vergeblich so etwas wie eine Rufanlage, die mich dem Lokführer verbindet. Schließlich sehe ich durch die Fenstertür eine Frau im anderen Waggon sitzen. Ich klopfe, winke, schreie. Sie bemerkt mich und kommt an die Tür. Selten war ich morgens so froh, ein anderes Gesicht zu sehen. Ich hole einen Zettel aus der Tasche und schreibe: "Bin eingesperrt". Ich halte ihn ans Fenster. Die Frau nickt und gestikuliert, dass sie Hilfe holen will.

Wie aus heiterem Himmel tippt mir Sigmar Gabriel auf die Schulter. Er trägt die Uniform eines Bahnmitarbeiters. "Wie kommen Sie denn hier rein?", fragt er. Ok, wahrscheinlich ist es nicht der echte Sigmar Gabriel. Es ist der Schaffner, der aber verblüffende Ähnlichkeit hat mit Sigmar Gabriel. Er erklärt, der Waggon sei kaputt, der Strom funktioniere hier nicht. Daher habe er ihn kurz vor dem Losfahren zugesperrt. Er sei auch extra noch mal durchgelaufen, um sich zu vergewissern, dass niemand drin sitze. "Hab' Sie nicht gesehen." Ich bilde mir ein, er redet auch noch wie Sigmar Gabriel.

Er entriegelt die Tür zum vorderen Waggon. Ich höre, wie Menschen miteinander reden. Es ist die Musik der Gesellschaft. Die nette Frau von vorhin freut sich, dass ich befreit bin. Kurz vor Petershausen stempelt mir der Schaffner eine Kinderfahrkarte (ein anderes Ticket hat er grad nicht), damit ich nach Dachau zurückfahren kann. Wegen der Umstände will er mir noch etwas Gutes tun und kramt aus der Tasche eine Lutschmuschel hervor. Ich frage, warum er eine Lutschmuschel dabei hat? Er sagt: "Für alle Fälle."

© SZ vom 20.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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