Süddeutsche Zeitung

Mitten im Sitzungssaal:Spurlos verschwunden

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Wer den Blick zur alten Holzkassettendecke des Sitzungssaals im Dachauer Rathaus hebt, sieht sich Auge in Auge mit Propheten der ersten Stunde. Doch wo sind Abdias und Nachum abgeblieben?

Von Gregor Schiegl

Einer der letzten Propheten in Bayern war Alois Hingerl, Dienstmann Nummer 172 am Münchner Hauptbahnhof und notorischer Grantler, der vom Schlag getroffen zu Boden fiel und von Engeln in den Himmel geleitet wurde, wo er munter weiter grantelte - nachzulesen in Ludwig Thomas Geschichte vom "Münchner im Himmel". Natürlich stört so eine Nervensäge den himmlischen Frieden empfindlich, weshalb er, ausgestattet mit einem Sonderauftrag und dem prophetischen Namen Aloisius, auf die Erde geschickt wurde, die bayerische Staatsregierung mit göttlichen Eingebungen zu versorgen. Es kam, wie es kommen musste. Aloisius setzte sich erst mal ins Hofbräuhaus und bestellte sich eine Mass. Und noch eine.

Während die bayerische Regierung noch immer auf göttliche Ratschläge wartet, müsste der Dachauer Stadtrat eigentlich geradezu erleuchtet sein, denn wer den Blick zur alten Holzkassettendecke des Sitzungssaals hebt, sieht sich Auge in Auge mit Propheten der ersten Stunde, wenn man das so sagen kann: Ezechiel, der erste Ufologe aus alttestamentarischer Zeit, thront auf der Innenseite eines hölzernen Oktogons nebst dem systemkritischen Propheten Daniel und seinem Amtskollegen Habakuk, von dem die Mahnung an alle Dampfplauderer überliefert ist: "Siehe, der Aufgeblasene, unaufrichtig ist seine Seele in ihm."

Warum die Entscheidungen des Dachauer Stadtrats trotzdem oft nicht von göttlicher Erleuchtung durchdrungen sind, liegt vielleicht daran, dass sich zwei Propheten vom Acker gemacht haben. Abdias und Nachum, zugegeben Hinterbänkler unter den Propheten, sind aus ihren Nischen verschwunden und haben nichts hinterlassen außer einer Spur Klebstoff. Die Frage ist nun: Wo stecken sie? Sitzen sie im Kochwirt? Schlürfen Sie Glühwein am Christkindlmarkt? Und warum sind sie abgehauen? Ist es Politikverdrossenheit? Bewegungsdrang? Gibt es Nachrücker? Vielleicht zur Abwechslung mal eine Frau? Übrigens haben Abdias und Nachum mithin die kürzesten Texte hinterlassen. Dies könnte ein Hinweis an die Politik sein, dass wahre Erkenntnis keines endlosen Gelabers bedarf.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2019
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