Normalerweise ist an Wochenenden in Schulen nichts los. Doch an den ersten beiden Samstagen im Mai herrschte an der Karlsfelder Mittelschule (MSK) reger Betrieb. 58 Mädchen und Jungen legten an diesen beiden Tagen schriftliche und mündliche Prüfungen in Englisch ab, um das sogenannte Cambridge-Zertifikat zu erwerben. Das wäre vielleicht nicht unbedingt eine Nachricht wert, geschähe es nicht an einer Schule dieses Formats. Die Karslfelder ist die einzige Mittelschule unter 57 Schulen in ganz Bayern, an denen Schüler die renommierte Prüfung ablegen können. An den ersten beiden Mai-Samstagen saßen daher neben 22 Englisch-Lernenden der MSK auch Schüler der Therese-Giehse-Realschule Unterschleißheim und der Dr.-Josef-Schwalber-Realschule Dachau an den Prüfungsaufgaben.
Nun bedeuten für die Karlsfelder Lernanstalt, die 2023 den bundesweit ersten Preis für demokratische Schulentwicklung erhielt, schulformübergreifende Veranstaltungen nichts Neues. Schon seit Jahren gibt es dort Streetball-Turniere und Boulder-Wettkämpfe, an denen auch Realschüler und Gymnasiasten anderer Schulen teilnehmen. Doch wie kommt es, dass Zehntklässler einer Mittelschule sich seit dem Schuljahr 2022/23 ausgerechnet in Karlsfeld um das international anerkannte Cambridge-Zertifikat bemühen können? Das ist der Lehrerin Mihrican Sevinc zu verdanken. Als sie 2015 ein Jahr lang an einer Schule in Istanbul unterrichtete, stellte sie fest, dass dort dieses Zertifikat vergeben wird.
Nach ihrer Rückkehr nach Karlsfeld versuchte sie zu erfahren, ob es auch für die hiesige Mittelschule die Möglichkeit gibt, die notwendigen Prüfungen abzulegen. „Ich habe dann vom Cambridge Institut in München das Okay bekommen“, berichtet sie. Mehr noch, seit 2022 ist sie selbst als sogenannte Cambridge Speaking Examiner tätig. Zudem nimmt sie regelmäßig an Trainings- und Zertifizierungskursen teil. „Diese Fortbildungen ermöglichen es mir, immer auf dem neuesten Stand der Prüfungsanforderungen zu bleiben und meinen Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Unterstützung zu bieten.“

Nahmen beim ersten Mal nur elf Karlsfelder Schülerinnen und Schüler teil, so waren es ein Jahr später bereits 15. Alle schafften bei der Prüfung das notwendige B1-Niveau, mehr als die Hälfte von ihnen aber gleichzeitig das höhere B2-Niveau. In diesem Jahr kam für die MSK, von der diesmal 22 Zehntklässler teilgenommen haben, eine Neuerung: „Ein bedeutender Schritt für uns ist die offizielle Anerkennung unserer Schule als Prüfungsort. Seit diesem Jahr finden die Prüfungen direkt bei uns statt, was sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für mich eine besondere Bedeutung hat“, betont Sevinc. „Wir freuen uns, dass wir diesen Schritt gegangen sind und so eine engere Verbindung zwischen Unterricht und Prüfung ermöglichen können.“
Doch wie laufen die Vorbereitungen für die Prüfung eigentlich ab? In den beiden zehnten Klassen der MSK, in denen Sevinc und ein Kollege Englisch unterrichten, werden bis zu den Herbstferien die besonders leistungsstarken Englisch-Schüler ausgewählt und mit einer Zusatzstunde pro Klasse und Woche auf die Prüfung vorbereitet, für die pro Nase 100 Euro zu zahlen sind. Der schriftliche Teil besteht aus drei Teilen: „Listening“ (zuhören und Fragen zum Text beantworten mit 30 Minuten), 45 Minuten „Writing“ (eine E-Mail beantworten und ein freier Text) sowie noch einmal eine Dreiviertelstunde „Reading“ (Fragen zu einem Text im Multiple-Choice-Verfahren beantworten).
Die mündlichen Prüfungen von zehn bis zwölf Minuten Dauer legen jeweils zwei Prüflinge gemeinsam ab, die dabei ein Bild beschreiben und Fragen dazu beantworten sowie eine Diskussion miteinander führen. Die Prüfenden in Karlsfeld kommen von Schulen aus anderen Orten, um Neutralität zu gewährleisten. Bis die Ergebnisse da sind, braucht es Geduld, denn die schriftlichen Arbeiten werden nach Cambridge zur Korrektur und Bewertung geschickt, ebenso die erreichte Punktzahl bei der mündlichen Prüfung. Auch die Gesamtnote wird in England errechnet.
Für Sevinc geht es beim Cambridge Zertifikat besonders darum, das Selbstvertrauen der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Das erscheint wichtig in einer Einrichtung, die allzu oft zu Unrecht als „Restschule“ angeschaut wird. „Ich möchte einfach unsere Schüler motivieren, möchte, dass sie an sich glauben und sehen, was sie können“, sagt die Lehrerin. „Ich möchte, dass sie sich die Welt anschauen, dass sie herumkommen. Es ist eine bereichernde Erfahrung, unseren Schülerinnen und Schülern die Chance zu ermöglichen, ihre Sprachkenntnisse mit einem weltweit anerkannten Zertifikat zu belegen und so ihre Fähigkeiten auf internationaler Ebene zu bestätigen.“
Was die Lehrerin antreibt, sich für ihre Schüler einzusetzen, ist auch ihre eigene Lebensgeschichte: Mihrican Sevinc wurde als Kind türkischer Eltern in Würzburg geboren, konnte aber kein Deutsch, als sie in die Schule kam. „Meine Eltern meinten, sie blieben sowieso nicht lange in Deutschland.“ Das sollte sich als Irrtum herausstellen, und so lernte Sevinc nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch. Über Haupt- und Realschule hat sie es aufs Gymnasium geschafft, Abitur gemacht, studiert und setzt heute alles daran, dass ihre Schüler denselben Weg gehen können.