Süddeutsche Zeitung

Minderjährige in der Coronakrise:Kinder leiden in der Pandemie besonders

Der Sozialpädagoge Alexander Krigkos berichtet im Haimhauser Sozialausschuss über erschütternde Fälle

Von Horst Kramer, Haimhausen

Die Abkürzung schien nur wenigen Mitgliedern das Haimhausener Sozial-, Kultur- und Bildungsausschuss vertraut: Isef. Doch auch die Langversion schafft nicht unbedingt für Klarheit: Denn die vier Buchstaben bedeuten "insoweit erfahrene Fachkraft". Genau deswegen stattete Alexander Krigkos vom Haimhausener Zweckverband Jugendarbeit dem Gremium einen Besuch ab. Der Sozialpädagoge ist zwar schon seit 2005 in der Gemeinde tätig und betreut zudem in der Region einige Schulen als Jugendsozialarbeiter, darunter die Grund- und Mittelschule in Altomünster. Doch als "Insoweit erfahrene Fachkraft" ist er erst seit dem vergangenen Jahr tätig, nach dem erfolgreichem Abschluss einer Weiterbildungsmaßnahme.

Krigkos ist seitdem eine zertifizierte "Kinderschutzkraft". Er unterstützt Mitarbeitende sozialer Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und sich um das Wohl ihrer Schützlinge sorgen. Sei es wegen direkter körperlicher oder seelischer Gewalt, sei es wegen Vernachlässigung oder Überforderung der Eltern oder auch eines allein erziehenden Elternteils. Der Sozialpädagoge sprach über einige erschütternde Fälle, mit denen er in den vergangenen Monaten zu tun hatte: Etwa die zunehmende Zahl von Selbstverletzungen, die sich Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit zufügten. Oder gewalttätige Väter, deren Reaktionen unvorhersehbar oder sogar gefährlich sein könnten, wenn sie von einer Erzieherin auf die Situation des Kindes angesprochen werden. Krigkos berichtete von einer Mutter, die mit ihrem Kind in einer Einzimmer-Wohnung lebt, aber von ihrer Vorliebe für Horrorfilme nicht lassen kann - trotz der Angstzustände ihres Kindes. Er erzählte von einem alleinerziehenden mobilitätseingeschränktem Elternteil, das nicht verhindern kann, dass sein Kind nachts ausbüchst und Straftaten begeht.

Krigkos kennt diese Fälle aus den Erzählungen der Erzieherinnen oder Erziehern, den Pädagogen und Pädagoginnen, die ihn um Hilfe bitten. Mit den Akteuren kommt er in der Regel nie in Berührung. Krigkos bittet seine Ansprechpartner sogar ausdrücklich: "Nennt mir keine Namen." Denn er will neutral bleiben. Der Sozialpädagoge ist als "insofern erfahrene Fachkraft" im gesamten Landkreis tätig und ansprechbar. "Das Dachauer Landratsamt hat diese Leistung an die Träger ausgelagert", berichtete er. In den Nachbarlandkreisen Freising oder Pfaffenhofen übernehmen die Jugendämter diese Tätigkeiten.

Die Arbeit der Fachkräfte ist schon seit 2005 im Sozialgesetzbuch skizziert. Dort heißt es: "Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen." Weiter unten heißt es, dass zur Gefahreneinschätzung "eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird". Die etwas holprige Gesetzestextformulierung, die ja nur bedeutet, dass in kritischen Fällen Experten in Sachen Gewalt befragt werden sollten, wurde wohl aus Ratlosigkeit zur Fachstellenbezeichnung. "Die Definition der insoweit erfahrenen Fachkraft hat der Gesetzgeber offen gelassen", klagt daher das Sozialreferat der Stadt München in einem Leitfaden für die Qualitätsstandards der Isef-Fortbildung aus dem Februar 2018.

Krigkos skizzierte die Vorgehensweise bei vermutetem Kindeswohl-Gefährdungsfällen. In der Regel steht eine Abstimmung mit dem Team - etwa im Kinderhaus - an erster Stelle. Dann kann ein Gespräch mit den Eltern oder dem Elternteil folgen. Ob zusammen mit der Kinderhaus-Leitung oder mit Kollegen müsse im Einzelfall entschieden werden. Hier spielt die "insoweit erfahrene Fachkraft" eine wichtige Rolle. "Eine Erzieherin bildet mit den Eltern eine Erziehungspartnerschaft." Eine Partnerschaft, die zuweilen durch eine längere Vorgeschichte geprägt oder belastet ist. "Die Isef-Kraft ist dagegen neutral und kann zu anderen Bewertungen kommen", fuhr er fort. Wenn sich die Befürchtungen bewahrheiten, ist das Jugendamt zu informieren. "Das bedeutet aber nicht, dass die Polizei gleich mit Blaulicht anrückt und das Kind mitnimmt", stellte Krigkos klar. Das sei eher die Ausnahme. Ein Bestreben des Jugendamts sei es immer, "die Kernfamilie zu erhalten".

Die Mitglieder des Haimhausener Ausschusses folgten seinen Ausführungen mit größtem Interesse und stellten eine Menge Fragen. Die Ausschuss-Vorsitzende Claudia Kobs (CSU) erkundigte sich nach Mobbing-Fotos und -Videos in Kinder- und Teenagerkreisen, von denen immer wieder die Rede ist. Krigkos ordnete diese Fälle als Probleme ein, die in den Bereich der Jugendsozialarbeit fallen, nicht in den der "Isef"-Arbeit. Kobs wollte weiter wissen, mit wie vielen Konflikten der Haimhausener in den vergangenen zwölf Monaten zu tun gehabt habe. "Sieben oder acht", lautete die Antwort. Allerdings sei vielerorts noch nicht bekannt, dass er nun über die "Isef"-Qualifikation verfüge. Christian Stangl (FDP) hakte nach, welche Altersgruppen besonders von Gewalt betroffen seien. "Grundschüler", antwortete Krigkos sehr schnell, schränkte aber ein: "Dort sind wir schon bekannt und werden eher zu Rate gezogen." Die Corona-Pandemie als solches hätte indes eher die Jugendlichen getroffen. "In diesem Alter ist man in einer Phase der Loslösung vom Elternhaus. Home-Office und Home-Schooling bewirken das Gegenteil", sagte Krigkos. Claudia Kobs lud den Sozialpädagogen zu künftig regelmäßigen Berichten über seine Isef-Arbeit ein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5335543
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.06.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.