Rosenkohl kann ganz schön unheimlich sein. Wirsing auch. Überzogen von einer rosafarbenen Silikonschicht gleichen die krausen Blätter menschlichen Lungenflügeln; das Bronzeobjekt, das aussieht wie der Stechrüssel eines blutsaugenden Rieseninsekts, entpuppt sich als Abguss vom Strunk eines Rosenkohlstrauchs; und was da mit schaurigen Tentakeln in gelb-braunen Säften dickbäuchiger Einmachgläser dümpelt, sind auch keine Aliens, sondern Wurzelstöcke aus Michael von Brentanos Gemüsegarten.
Was man in der Ausstellung des Künstlers aus Seeshaupt zu sehen bekommt, ist auf faszinierende Weise verstörend, stellenweise wähnt man sich in einem naturkundlichen Museum, Abteilung Kryptozoologie. Zwischen den Deckensäulen ist ein Stahlseil gespannt und hält die Besucher auf Abstand zu den Exponaten, präsentiert werden sie auf flachen grauen Kästen.
Die andere Hälfte des Raums ist offen und frei zugänglich. Hier hängen Aquarelle, intuitiv gemalte Landschaften in naturnahen Strukturen, manches floral, irgendwie organisch, doch abstrakt. Daneben Seiten eines Fotobandes mit Aufnahmen der Erde aus dem Weltraum – allerdings ohne den blauen Planeten. Der wurde akkurat raus gelasert. Der Rest: ewige Finsternis.
Lockenwickler und Plastikfrüchte
Konzipiert hat Michael von Brentano die Ausstellung für die KVD-Galerie sozusagen als maßangefertigte Großinstallation. „Das macht sie total einzigartig“, so wie in Dachau werde diese Ausstellung nie sonst mehr zu sehen sein. Natürlich kann jedes der Kunstwerke für sich allein stehen, hier wie anderswo. Aber in ihrer Kombination, dem großen Design, verbinden sie sich zu einem artistischen Ökosystem.
Bestimmt wird dieses nicht von den erbarmungslosen Regeln natürlicher Auslese, die höhere Ordnung basiert hier auf der menschlichen Fantasie. Die freie Assoziation verbindet, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört – das Tierische und das Pflanzliche, das Technische und das Organische, der Mikrokosmos und der Makrokosmos.
Beispielhaft zu sehen ist das in einer Videoinstallation, die das Zentrum dieser Ausstellung bildet. Untermalt von sphärischer Zithermusik sieht man Wälder, die Brentano mit der Handkamera durchstreift, Szenen vom Starnberger See, wo er zu Hause ist, und von Gaino, einem kleinen Ort am Gardasee. Dazwischen Filmsequenzen aus dem Internet: Sterne im All, Kleinstlebewesen unterm Mikroskop, Ufo-Sichtungen, Wildtier-Aufnahmen. Und gewaltige Zerstörungen: das brennende Luftschiff-Gerippe der Hindenburg, eine Sonnenprotuberanz, Bilder einer Staublawine. Ihnen folgen Aufnahmen der Zündung der ersten Wasserstoffbombe. Sein oder Nichtsein.
Unter einer transparenten Käseglocke wartet ein Stillleben aus neon-buntem Plastik: billige Bürsten, Lockenwickler – und das Imitat einer exotischen Frucht. Alte Äste, der Länge nach aufgesägt, imitieren Knochenlängsschnitte einer anatomischen Sammlung. Ein in Epoxidharz gegossenes Seetangblatt weckt dunkle Kinderfantasien an Meeresungeheuer, die Ausstellung ist wie eine Wunderkammer der Natur. Brentano ist findig. „Ich komme aus der Spurensammelkunst“, erklärt der Bildhauer. Interessante Dinge, die er auf seinen Streifzügen findet, sammelt er und verarbeitet sie zu Kunstwerken. Oder er stellt sie einfach aus, wie sie sind, als Readymade.
Da ist zum Beispiel die winzige kleine Holzschachtel mit einem Prägeetikettendruck, der für gewöhnlich Aufschluss über den Inhalt gibt, „Brontosaurus“ steht darauf. Leider scheint das Riesenurviech abhandengekommen zu sein. Das Kästchen ist leer. Und das ist nur ein Detail von vielen. Michael von Brentano hat einen ganzen Kleintransporter mit Arbeiten für diese Ausstellung heran gekarrt, Objekte, Skulpturen, Zeichnungen, Collagen, Fotografien, Videoarbeiten. Die Überschrift über dieser kleinteiligen, bunt schillernden Erzählung lautet „Pastime Paradise“.
Der Titel ist eine popkulturelle Referenz auf Stevie Wonders gleichnamigen Song aus dem Jahr 1976. Schon damals stellt der amerikanische Sänger eine weitverbreitete Neigung seiner Mitmenschen fest, lieber in der vermeintlich guten alten Zeit zu schwelgen, statt sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Für Wonder war das seinerzeit vor allem der Kampf gegen Diskriminierung, Rassismus und Ausbeutung. Brentano stellt die aktuellen globalen Krisen in den Mittelpunkt. Die rasant fortschreitende Klimaerwärmung, aber auch die Gefahren durch Künstliche Intelligenz. „Die Maschinen werden sich irgendwann verselbstständigen“, glaubt er. Ob die Menschheit überleben wird – Brentano hat da seine Zweifel.
Ein Romantiker des 21. Jahrhunderts
Die Bereitschaft, sich in einem gemeinsamen Kraftakt dem Klimawandel entgegenzustellen, ist anscheinend schon wieder passé. Manche lassen sich sogar noch eine Ölheizung einbauen. Pastime Paradise im Heizungskeller. Auch das Verhältnis zur Natur scheint nach der Diagnose des Künstlers schwer gestört zu sein. Sie diene nur noch als Freizeitpark und Selbstbedienungsladen, die der Mensch rücksichtslos ausplündert, kritisiert er.
Und auch seine Collage „Süßes Atomzeitalter“, ein von kitschigen Papprosen umranktes Bild eines Nuklearmeilers, erscheint im Jahr 2024 gar nicht mehr so ironisch, wie sie wahrscheinlich mal gemeint war. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich noch einmal mit dem Thema Atomwaffen beschäftigen würde“, sagt der 64-Jährige fassungslos. Aber man muss die Hoffnung hochhalten, trotz allem. Gerade er, der Künstler, Barfußgänger und bekennende Romantiker. Der berühmte Dichter Clemens Brentano ist einer seiner Vorfahren, tatsächlich.
„Die Kunst muss einen Zauber haben“, sagt Brentano, und zum speziellen Zauber dieser Ausstellung gehört, dass man ständig ins Staunen kommt. Dass hier nichts selbstverständlich, simpel und offenkundig ist. Man muss alles neu entdecken wie ein Kind. Die Erscheinungen der Natur bekommen hier wieder etwas Eigenständiges, Lebendiges, oftmals Bezauberndes, Magisches. Dass dadurch am Ende doch noch ein „Living in a Future Paradise“ möglich werden könnte, ist wahrscheinlich auch nur eine romantische Utopie des 21. Jahrhunderts. Aber vermutlich eine überlebensnotwendige.
„Pastime Paradise“, Ausstellung von Michael von Brentano in der KVD-Galerie Dachau. Eröffnung am Freitag, 13. September, 19.30 Uhr, mit einer Einführung von Benita Meißner, DG Kunstraum München. Öffnungszeiten Donnerstag bis Samstag von 16 bis 19 Uhr und Sonntag 14 bis 18 Uhr. Zu sehen bis 6. Oktober.