Michael Schrodi: "Verbündet euch!":Eine Erzählung, die alle mitdenkt

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Der vom Dachauer Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi herausgegebene Band "Verbündet euch! Für eine bunte, solidarische und freie Gesellschaft" skizziert eine parteiübergreifende linke Vision von einer gerechten, fortschrittlichen Gesellschaftsordnung

Von Gregor Schiegl, Dachau

Laut einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap wünschen sich 62 Prozent der Befragten, "dass die SPD künftig eine wichtigere Rolle spielt als zur Zeit". Gleichzeitig würden nur etwa 16 Prozent ihr Kreuzchen bei der SPD machen, wenn am Sonntag Bundestagswahlen wäre. Das ist keine besonders ermutigende Ausgangslage für die Sozialdemokratie. Etwas Rückenwind kann da nicht schaden. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi, der den Wahlkreis Dachau-Fürstenfeldbruck vertritt, hat nun ein Buch veröffentlicht, für das ihn SPD-Altkanzler Helmut Schmidt Schrodi vermutlich zum Arzt geschickt hätte, denn es ist ein Sammelband, der das Visionäre nicht scheut und eine überwölbende politische Idee für ein rot-rot-grünes Regierungsprojekt entwickelt.

Die in dem mehr als 300 Seiten starken Buch versammelten Aufsätze stammen von mehr als 30 Autorinnen und Autoren. Im Titel "Verbündet euch! Für eine bunte, solidarische und freie Gesellschaft" schimmert zumindest noch als Reminiszenz die kommunistischen Parole "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" durch, nur dass die Problemlagen sich seit Marx' Zeiten weiterentwickelt haben: die Klimakrise, Energiewende, künstliche Intelligenz und Digitalisierung, das sind alles neue, große Herausforderungen. Doch sie sind eingebettet in das alte systemische Problem eines entfesselten Kapitalismus. "Alles steht zurück hinter der Mehrung des Kapitals, unsere Gesundheit, unsere Nahrung, unsere Werte, unsere Umwelt, unsere Grundrechte, alles reiht sich ein hinter die Idee vom stetigen Wachstum", analysiert die Publizistin Sophie Sumburane.

Dem stellt das Buch einen linken Gegenentwurf gegenüber, der "die Notwendigkeit fortschrittlicher Politik für die Menschen in Deutschland und Europa" zeigt, wie Schrodi erläutert. Unter den Oberbegriffen "Gründe", "Themen" und "Menschen" finden sich Visionen zu sozialer Gerechtigkeit, Klimaschutz, Menschenrechten, Demokratie, Solidarität und vielen anderen gesellschaftspolitischen Themen. Wer dröge Parteifunktionärsprosa aus der linken SPD-Denkfabrik erwartet, wird von diesem Band angenehm überrascht. Die meisten Beiträge sind in einem sehr argumentationsfreudigen und lebendigen Stil verfassten, und abwechslungsreich bleibt das Buch nicht zuletzt dank der Vielfalt seiner Perspektiven. "Die Autorenliste liest sich fast wie das Who-is-Who einer solidarischen, bunten Impulsgebergemeinschaft, die in dieser Vielfalt einzigartig ist", schreibt der Herausgeber Schrodi.

Zu den Autoren gehören Politiker von SPD, Grünen und Linken,unter ihnen die Fraktionsvorsitzenden von SPD und Linken, Rolf Mützenich und Dietmar Bartsch, Gewerkschafter, Künstler und Mitglieder von Campact sowie Fridays for Future. Das Projekt denkt also nicht nur über den Tellerrand der Parteigrenzen hinaus, sondern auch bis tief in die Zivilgesellschaft hinein - in Wissenschaft, Kultur, Gewerkschaften, Vereine. Die braucht die Linke, wenn sie ihre Vorstellungen einer solidarischen Welt umsetzen will. Solidarität kann man schlecht von oben verordnen.

Der erste Teil des Buchs begründet, warum die Linke nur vereint etwas erreichen kann. "Der soziale Ausgleich ist komplizierter als die rechten Antworten", schreibt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lisa Paus. Antworten auf komplizierte Fragen finde man nur im gemeinsamen Diskurs. Und dann ist da auch noch die historische Erfahrung. Die Linke hat ein fatales Talent für interne Querelen und Abspaltungen und ganz besonders die SPD. Gerade in einer Zeit, in der der Rechtsterrorismus erstarkt und Todeslisten mit den dem Namen von Vertretern einer missliebig offenen, pluralen Gesellschaft kursieren, hält Thomas Willms, Bundesgeschäftsführer der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, die Solidarität der Linken für ein Gebot der Stunde. "Im Angesicht der faschistischen Bedrohung müssen sie zusammenhalten. Und zwar dann, wenn es noch geht, nicht wenn es schon zu spät ist". Oder wie Erich Kästner es in seinem Text "Über das Verbrennen von Büchern" ausdrückte: "Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders. Nicht des Heroismus."

Nicht zuletzt muss die Linke im Wettbewerb der Narrative eine eigene Erzählung anbieten - gegen den Neoliberalismus, bei dem nur Reiche und Leistungsfähige zählen und gegen die Rechte, die nur Vertreter einer homogenen ethnischen "Volksgemeinschaft"anerkennt. Die Blaupause für diese linke Narrativ fasst Nicole Wloka am Anfang des Buchs so zusammen: "Sie ist keine Erzählung der Ausgrenzung. Sie ist eine Erzählung von Ungleichen, Bunten, Diversen, Alten und Jungen aus Ost, West, Nord und Süd, die nur dann gleich sind, wenn es um das Gesetz geht. Eine Erzählung, die alle mitdenkt. Selbst die am rechten Rand. Die Haltung zeigt. Eine Erzählung, die abstrakte Begriffe von Würde Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Solidarität unter den Bedingungen von Freiheit ernst nimmt und in das alltägliche Miteinander, die konkreten Lebensumstände, aber auch ihre politischen Voraussetzungen zu übersetzen sucht. Diese Erzählung kann nicht anders sein als zukunftsgerichtet sein..." Das Gegenteil von konservativ.

Michael Schrodi beschreibt in seinem Beitrag, wie er sich eine Finanzpolitik jenseits der neoliberalen Erzählung vorstellt. Nämlich mit einem starken Staat, der in der Finanzpolitik keinen Selbstzweck sieht, sondern ein Instrument gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung. Dass das auch gegenfinanziert werden muss, stellt Schrodi nicht in Abrede. Er plädiert für Steuererhöhungen, und für eine weitere Kreditaufnahme des Staats, um Infrastruktur wie Schulen, Straßen oder Bahnstrecken zu sanieren. Und, ja, auch die Forderungen des SPD-Programmentwurfs für einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde finden sich in seinem Text wieder.

Diese Positionen muss man nicht teilen, Demokratie lebt von der Vielfalt der Ideen. Dennoch gibt es berechtigte Kritikpunkte. Das Plädoyer des Linken-Abgeordneten Jan Korte, das alte Sozialsystem der Bundesrepublik zu restaurieren, wirkt nicht besonders zukunftsorientiert, und die These, dass die Gewalt erst durch das kapitalistische System Einzug in die menschliche Zivilisation gefunden habe, steht mit Verweis auf die Aussagen eines einzelnen Historikers doch auf sehr wackeligen Beinen. Gleichwohl, in einem sehr argumentationsfreudigen Stil ist dieser Band ein erfreulich belebender Beitrag zur der sonst eher lahmen politischen Debattenkultur im Land.

Denkfabrik (Hg.): "Verbündet euch! Für eine bunte, solidarische und freie Gesellschaft", 18 Euro. Broschur, 312 Seiten, Edition Nautilus 2021.

© SZ vom 04.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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