Markt Indersdorf:Organisatorischer Gewaltakt

In weniger als 48 Stunden gelingt es dem Landkreis Dachau, gemeinsam mit BRK, THW und Caritas ein Flüchtlingslager für 120 Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Afrika in Markt Indersdorf zu errichten

Von Benjamin Emonts, Markt Indersdorf

Mittwochvormittag, kurz vor elf. Ein großer, weißer Reisebus rollt vor die Tennishalle im Industriegebiet von Markt Indersdorf. Seine Türen bleiben erst noch geschlossen, nach zwei, drei Minuten steigt ein kleines Mädchen in einem schwarzen Kleidchen aus, gefolgt von seiner Mutter und einer Gruppe Männer. Madjegui Touré, ein Nigerianer, zündet sich im Freien eine Zigarette an, er trägt eine Daunenjacke, Kopfhörer und eine Sonnenbrille. "Ich musste weg - wegen der Boko Haram", sagt er in gebrochenem Englisch. Was ihn im Inneren der Tennishalle erwartet? "Ich habe keine Ahnung."

Keine 20 Minuten vorher kommt auf dem Vorplatz der Tennishalle eine Lieferung Isomatten an, auch Biertischgarnituren und Tische sind dabei. Ehrenamtliche Helfer des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) tragen die Matten eilig in die Halle und legen sie auf die 128 provisorisch aufgebauten Feldbetten. Jedes von ihnen ist mit einem bezogenen Kissen, einer Baumwolldecke und einer Notfalldecke aus Wolle versehen. Im rechten hinteren Eck des Gebäudes stehen unzählige Kisten mit Hygieneartikeln: Zahnbürsten, Windeln, Klopapier, Haarbürsten, Shampoo. Daneben errichten die Helfer gerade einen Stand, an dem schon bald Essen ausgegeben werden soll. Bauzäune trennen den Schlafbereich, der anmutet wie ein Feldlager, in vier Sektionen. In der Halle ist es angenehm warm. Und draußen steht bereits der erste von drei Toilettenwägen; die Ankunft dreier Duschcontainer wird am Nachmittag erwartet.

Markt Indersdorf: Ehrenamtliche Helfer von THW und BRK haben am Dienstagabend 128 Feldbetten aufgestellt.

Ehrenamtliche Helfer von THW und BRK haben am Dienstagabend 128 Feldbetten aufgestellt.

(Foto: Toni Heigl)

Am Dienstag, um 18 Uhr, stand die Halle noch gänzlich leer. Die 17 Asylbewerber, die darin lebten, wurden bereits am Nachmittag in die neue Asylbewerberunterkunft in Erdweg verlegt. Es musste Platz geschaffen werden. Denn am Montag, um 16.30 Uhr, erreichte Alexander Krug, Abteilungsleiter am Landratsamt, ein Anruf der Regierung von Oberbayern. Bereits im Laufe des Mittwochs, so lautete die Vorgabe, sollte der Landkreis Dachau auf einen Schlag 120 ankommende Flüchtlinge unterbringen - für maximal zehn Tage, so hieß es. Die Entscheidungsträger im Landratsamt, ein Team aus zwölf Mitarbeitern, wählten also die rund 1000 Quadratmeter große Tennishalle in Markt Indersdorf aus.

Krug steht am Dienstagabend mit Anzug und Krawatte in der Halle. "Ich habe vier Stunden geschlafen", sagt er. Um ihn herum arbeiten 60 ehrenamtliche Helfer des BRK, des THW, der Caritas und des Landratsamts mit Nachdruck daran, das improvisierte Feldlager zu errichten. Über eine Menschenkette werden die Feldbetten vom Außenbereich in die Halle gegeben. Benjamin Sanchez und Markus Weigl vom BRK verbauen die Holzelemente und Planen aus Baumwolle und Polyester im Eiltempo zu Feldbetten. "Es dauert 30 Sekunden, wenn man geübt ist", sagt Weigl. "Es macht Freude, Menschen zu helfen."

Markt Indersdorf: Um kurz vor elf Uhr am Mittwoch kam der erste Bus mit 49 Flüchtlingen in Indersdorf an, darunter mehrere Familien aus Syrien.

Um kurz vor elf Uhr am Mittwoch kam der erste Bus mit 49 Flüchtlingen in Indersdorf an, darunter mehrere Familien aus Syrien.

(Foto: Toni Heigl)

Wenige Meter weiter werden die fertigen Betten bereits paarweise aufgestellt, während die Ehrenamtlichen vom THW Kissen und Bettdecken mit Laken beziehen. Das Tempo, das die Arbeiter dabei vorlegen, ist immens: Bereits nach eineinhalb Stunden stehen alle 128 Feldbetten, auf ihnen die weiß bezogenen Kissen und Decken. Landrat Stefan Löwl (CSU), der aufgrund des Notfalls vorzeitig von einer Berlinreise heimgekehrt ist, ist sichtlich beeindruckt: "Die Professionalität und das Engagement der freiwilligen Helfer sind imponierend."

Eine halbe Stunde, bevor der Bus mit dem ersten Schwung an Asylbewerbern am Mittwoch ankommt - 32 Männer, neun Frauen und acht Kinder -, findet sich auch der Sprecher der Regierung von Oberbayern, Florian Schlämmer, in Indersdorf ein. Auf die Frage, wie lange die Flüchtlinge in Indersdorf blieben, antwortet er: "Mindestens vier Wochen." Allein die bürokratische Abwicklung der Flüchtlingsaufnahme nehme mindestens zehn Tage in Anspruch. Krug vom Landratsamt muss das erst einmal schlucken: "Wir haben aber andere Informationen bekommen." Schließlich verabschieden sich beide für eine kurze Unterredung - bis Schlämmer mit der Nachricht zurückkehrt: "Die zehn Tage waren wohl ein Missverständnis ." Wieder einmal wird der Eindruck vieler Kommunalpolitiker des Landkreises nachvollziehbar, dass die Regierung von Oberbayern dem Landkreis Informationen vorenthält oder - schärfer formuliert - ihn vor vollendete Tatsachen stellt.

Markt Indersdorf: Unter den Flüchtlingen, die mit dem Bus am Mittwoch ankamen, war auch Madjegui Touré aus Nigeria (rechts).

Unter den Flüchtlingen, die mit dem Bus am Mittwoch ankamen, war auch Madjegui Touré aus Nigeria (rechts).

(Foto: Toni Heigl)

Die Flüchtlinge steigen nach und nach aus dem Bus, unter ihnen auch einige Familien. Im Laufe des Nachmittags werden sie zunächst registriert und von Ärzten des Gesundheitsamts in Augenschein genommen. "Wer offensichtlich krank ist, wird sofort medizinisch versorgt", sagt Wolfgang Reichelt, Pressesprecher des Landratsamts. Später werden die Asylbewerber nach Dachau gefahren, wo sie Blut-, Stuhl- und Urinproben abgeben müssen und eine Röntgenaufnahme ihrer Lungen angefertigt wird. "So können wir Infektionskrankheiten feststellen." Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan, Somalia, Mali, Nigeria, Pakistan, Senegal. "Es hat sich bewährt, Alleinreisende und Familien zusammen unterzubringen", sagt Regierungssprecher Schlämmer. "Wir achten bei der Zusammenstellung auf Herkunft, Ethnie und Religionszugehörigkeit."

Madjegui Touré musste wegen seiner Religion aus seiner Heimat Nigeria fliehen. Als Christ wurde er in seinem Land von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram verfolgt und kam über Libyen und Malta nach Deutschland. Er ist ein leidenschaftlicher Reggae-Musiker. Als er sein Smartphone zückt, zeigt er ein Foto des völlig überfüllten Bootes, mit dem er floh. Seine Frau und seine zwei Kinder sind inzwischen in einem Flüchtlingslager bei Dortmund untergebracht. "Ich will zu ihnen. Ich vermisse sie."

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