EU-Wahlkampf:Ein Sehnsuchtsort mit Baustellen

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Maria Noichl ist Mitglied des Europaparlaments. In das will sie erneut einziehen. (Foto: Toni Heigl)

Die bayerische SPD-Spitzenkandidatin für die Europa-Wahl Maria Noichl wirbt für den Staatenbund und benennt, was sich in der Klima- und Agrarpolitik sowie beim Asylkompromiss ändern muss.

Von Walter Gierlich, Dachau

Europa-Veranstaltungen müsse sie jedes Mal mit einer Liebeserklärung beginnen, sagt Maria Noichl: einer Liebeserklärung an den Sehnsuchtsort, der Europa für viele Menschen ist, die sich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung der Frauen wünschen. Für SPD-Politiker gebe es aber immer ein "Ja, aber", ergänzt sie. Daher sieht sie Europa auch als eine Baustelle, auf der noch viel gearbeitet werden muss. Daran arbeitet sie selbst mit, denn Noichl ist seit zehn Jahren Mitglied des Europaparlaments, war zuvor Landtagsabgeordnete und Stadträtin in Rosenheim.

Mit Sicherheit wird die 57-Jährige, die am Samstagvormittag im Gasthaus Drei Rosen eine Wahlkampfrede hält, ihr Mandat in Straßburg und Brüssel weitere fünf Jahre ausüben können, steht sie als bayerische Spitzenkandidatin doch auf Platz drei der Bundesliste ihrer Partei. Selten sind so lebendige, humorvolle und dabei höchst informative Politikerreden zu hören, denen allerdings nur knapp 30 Zuhörer lauschen, die meisten davon SPD-Mitglieder. Doch wenn den bayerischen Genossen jemand Optimismus einflößen kann, dann dürfte das Maria Noichl sein, deren Ausführungen einen Bogen von der Klimapolitik über den Rechtsruck in Europa und den von ihr abgelehnten Asylkompromiss bis zur Agrarpolitik spannen.

Sorgen um die Demokratie

Die Sozialdemokratin ist nicht die Einzige, der "Europa ein Herzensthema" ist, wie es die stellvertretende Landrätin Marianne Klaffki in ihrem Grußwort ausdrückt. Aber sie mache sich Sorgen "um unsere Demokratie, die nicht selbstverständlich ist". Denke man an vergangene Zeiten mit Grenzkontrollen und Geldumtausch, so sehe man, "welchen Erfolg wir mit der EU erreicht haben", erklärt der SPD-Unterbezirksvorsitzende Max Eckardt. Dennoch mahnt auch er zur Vorsicht wegen der rechten Kräfte in Europa. Der Dachauer SPD-Ortsvorsitzende Dennis Behrendt warnt angesichts der jüngsten Gewalttaten gegen Wahlkämpfer: "Es geht damit los, dass eine große Menge das toleriert und einfach wegschaut." Grußbotschaften per Video senden noch der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi und Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann, die ebenfalls beide dazu aufrufen, für die Erhaltung der Demokratie zu kämpfen.

Erstes Thema in Noichls Rede ist die Klimakrise. Sie habe festgestellt, dass manche Menschen noch nicht verstanden hätten, "was eigentlich das CO2-Problem ist". Beim Hausmüll wisse jeder, dass er für dessen Beseitigung zahlen müsse, doch auch Kohlendioxid sei ein Abfallprodukt - in dem Fall der Verbrennung fossiler Stoffe - das nur noch keinen Preis habe. Doch der komme zwangsläufig und werde hoch sein - "und wer rechtzeitig aussteigt, der ist im Vorteil".

Polnische Frauen haben die Demokratie zurückgeholt

Große Sorgen machen der Sozialdemokratin die antidemokratischen Entwicklungen in Europa, wobei sie klipp und klar verspricht: "Wir werden nie und nimmer mit Faschisten paktieren." Bei Konservativen sei sie da nicht so sicher, erklärt sie und bringt die bayerische Politik ins Spiel: Dem Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und seinem Vize Hubert Aiwanger (FW) wirft sie vor, die Zündschnüre auszulegen, die dann andere - etwa die AfD - anzünden. Die beiden teilten die Menschen in zwei Lager ein: die Guten auf der einen Seite und "die Lastenradfahrer, Fleischverächter, Genderer und Faulen" auf der anderen. Bei diesen verbalen Attacken gehe es "nicht um Minderheiten, sondern um die normale Bevölkerung", betont Noichl und zitiert dazu einen Satz Söders: "Die Grünen gehören nicht zu Bayern."

Immer mehr Länder der EU rücken nach rechts. In mehreren Staaten sind laut Noichl in den vergangenen Jahren Rechtspopulisten oder Rechtsextremisten an die Macht gekommen, etwa in Italien, in der Slowakei oder sogar in Schweden. Die einzige Ausnahme sei Polen, "wo Frauen die Demokratie zurückgeholt haben". Die Behauptung begründet sie unter anderem mit dem Kampf gegen die strengen Abtreibungsgesetze der abgewählten rechten PiS-Regierung. Kopfzerbrechen macht ihr zudem die Talfahrt der Sozialdemokraten: Vor fünf Jahren habe es in der EU noch neun sozialdemokratisch regierte Länder gegeben. Jetzt seien es nur mehr fünf.

"Migration kann man nicht stoppen"

Das EU-Parlament könne manches aufhalten, erläutert Noichl. So habe es beispielsweise Gelder für Ungarn eingefroren wegen Verstößen der Orban-Regierung gegen demokratische und rechtsstaatliche Regelungen. Allerdings habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Finanzen kürzlich freigegeben, sehr zum Ärger der EU-Parlamentarierin. In der Migrationsfrage stimmte Noichl sogar gegen die eigenen Parteifreunde in der Bundesregierung, als sie den sogenannten Asylkompromiss ablehnte. Dieser sieht zum einen schnellere Abschiebungen vor und Anerkennungsverfahren gleich an den EU-Außengrenzen. "Dieser Kompromiss wird nichts, nichts, nichts ändern. Migration kann man nicht stoppen", so Noichl. Dem Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei, CSU-Mann Manfred Weber, hält sie vor, dass er sogar die "Ruanda-Lösung" wolle, nach der Flüchtlinge gegen ihren Willen in das afrikanische Land geflogen werden sollen: "Das ist das Perverseste, was man sich vorstellen kann. Was die EVP hier vorhat, ist Menschenhandel und Sklaverei", bekräftigt die Europa-Parlamentarierin.

Auf Fragen der Zuhörer spricht sie weitere Themen an. Beispielsweise, dass es nicht gelungen sei, das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat in der EU komplett zu verbieten. Immerhin hätten es die Abgeordneten geschafft, dessen Benutzung erheblich einzuschränken: So darf es die Bahn etwa nicht mehr an den Gleisen versprühen. Eine andere Frage ist, warum die höchsten Agrar-Zahlungen der EU an Großbetriebe fließen und nicht an Bauernhöfe, die Umwelt und Natur schützen. Das ist in Noichls Augen ebenso unsinnig, wie wenn man Kindergeld nach der Quadratmeterzahl der Kinderzimmer zahlen würde. Es folgt ein Appell, zur Wahl zu gehen und auch Mitbürger dazu zu bewegen: "Jeder Sozialdemokrat nimmt zehn mit." Dazu ein Ratschlag: "Wer konservativ wählt, wählt eine Partei, die nach rechts nicht ganz dicht ist."

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