Mahnmale:Entrissene Heimaten

Nachkommen von NS-Opfern, Schüler und Interessierte polieren Stolpersteine in der Stadt. Es ist ein symbolischer, aber auch nachdenklicher Rundgang.

Von Jacqueline Lang, Dachau

Mit einem Schwamm und einer Metallpolitur macht sich Sarah, 16, ans Werk. Es ist ein bisschen müßig, vor allem, weil die Finger aufgrund der Kälte schnell klamm werden, aber nach ein wenig Schrubben glänzt die kleine Messingtafel wieder und man kann die Inschrift lesen: "Hier wohnte Max Wallach, JG 1875, deportiert 1942 Auschwitz, ermordet 1944." Es ist einer von insgesamt 15 Stolpersteinen, die 2005 von dem Künstler Gunter Demnig in Dachau verlegt wurden und seitdem an Menschen erinnern, welche die Nazis 1938 aus der Stadt vertrieben haben.

Sarah geht in die 11. Klasse am Ignaz-Taschner-Gymnasium. Gemeinsam mit ihren Mitschülern, ihrer Geschichtslehrerin Hedi Bäumel und einigen Interessierten nimmt sie an diesem Vormittag nach den Gedenkfeiern zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 an einem Rundgang teil. Insgesamt sechs Stolpersteine werden auf dem gemeinsamen Rundgang gereinigt. Es ist ein symbolischer Akt: Die Erinnerung polieren, damit sie nicht verblasst, nicht in Vergessenheit gerät. Es ist eine Tradition, die mittlerweile deutschlandweit immer mehr Anhänger findet.

Wallachpark

Paul Wallace (zweiter von rechts) zeigt sich sehr interessiert an dem Vortrag.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Längst nicht alle Juden finden diese Art des Gedenkens jedoch angebracht. Es sei, als würde man auf den Opfern herumtrampeln, etwa findet Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). In der Stadt München befinden sich aus diesem Grund Stolpersteine nicht auf öffentlichem, sondern nur auf privatem Grund. Gästeführerin Brigitte Fiedler hingegen findet es gut, dass es nicht ein großes Denkmal gibt, sondern viele kleine, über die man im wahrsten Sinne des Wortes stolpere. Wer sich herunterbeuge, um die Inschrift zu entziffern, verbeuge sich gleichzeitig vor den Opfern, meint sie.

Ihr geht es um die Würdigung der Opfer, auch bei ihrem Rundgang. Fiedler nimmt sich deshalb an jeder Station ein paar Minuten Zeit, die Geschichte hinter den eingravierten Namen zu erzählen. Spricht über Hans und Vera Neumeyer, Julius Kohn und Alice Jaffé. Besonders viel Zeit nimmt sie sich an diesem Vormittag jedoch für das Schicksal der Familie Wallach, denn unter den Anwesenden sind auch drei Menschen, für die das, was Fiedler erzählt, nicht nur irgendeine Familiengeschichte ist, es ist Teil ihrer eigenen Geschichte. Paul Wallace, seine Frau Sabrina Caporali und sein Cousin zweiten Grades, Gilbert Short, sind für die Feierlichkeiten am Wochenende extra angereist. Sein Bruder, Mark Wallace, musste vor dem Rundgang schon wieder abreisen.

Paul und Mark Wallace sind die Enkel von Max und dessen Frau Melitta Wallach, die in der Hermann-Stockmann-Straße, ehemals Hindenburgstraße, in Dachau jahrelang sehr erfolgreich eine Stoffdruckerei betrieben, bevor sie in der Nacht auf den 9. November 1938 alles, was sie sich aufgebaut hatten, zurücklassen mussten. Ihren damals 15-jährigen Sohn Franz, den Vater von Paul und Mark Wallace, setzten sie in einen der letzten Kindertransporte nach England. Er überlebte. Seine Eltern, die Eheleute Wallach, wurden 1942 deportiert und zwei Jahre später in Auschwitz ermordet. Neben den beiden Stolpersteinen erinnert heute in der Stadt Dachau auch der nach ihnen benannte Wallachweg an die Familie.

Paul Wallace ist zum zweiten Mal in Dachau. Zum ersten Mal sei er 2007 gemeinsam mit seinem Vater hier gewesen, sagt er. Den Erzählungen von Fiedler lauscht er mit großem Interesse. Immer wieder sagt er: "I did not know that", das wusste ich nicht. Weil sein Vater Zeit seines Lebens über das, was ihm und seinen Eltern passiert ist, kaum gesprochen hat, lernt Paul Wallace erst als erwachsener Mann mehr darüber, was seiner Familie widerfahren ist. "My father didn't talk about Dachau", über Dachau hat mein Vater nicht gesprochen.

Wallachpark

Gästeführerin Brigitte Fiedler.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Diese Aufgabe übernimmt nun ein stückweit Gästeführerin Brigitte Fiedler: In Dachau habe es 1938 keine jüdische Gemeinde, Geschäfte oder Synagogen gegeben, erzählt sie. Allerdings habe eine Liste mit den Namen aller jüdischer Bürger existiert. Anhand dieser Liste seien Männer der SS von Haus zu Haus gegangen und hätten allen in der Stadt lebenden Juden mitten in der Nacht mitgeteilt, sie müssten Dachau noch vor Sonnenaufgang verlassen, sonst kämen sie ins Gefängnis. Unter ihnen waren auch Paul Wallace Großeltern, Max und Melitta Wallach.

Ihre Fabrik hätten sie damals zu einem sehr geringen Preis verkaufen müssen. Der Käufer, ein Herr Witte, habe nach dem Krieg sogar die Dreistigkeit besessen, Moritz Wallach, einen in die USA geflohenen Bruder von Max Wallach, zu fragen, ob sie nicht zusammenarbeiten wollen würden, erzählt Fiedler weiter. Moritz Wallach, so sei es überliefert, habe entgegnet, dass, wäre damals ein fairer Preis bezahlt worden, seine Familie vielleicht noch leben würde. Auf die Frage von Paul Wallace, ob seine Großeltern versucht hätten, das Land zu verlassen, weiß Fiedler keine genaue Antwort, aber sie vermutet, dass sie es zwar versucht hätten, das nötige Geld aber gefehlt habe.

Wallachpark

Stolpersteine in Dachau.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Die Absurdität der abscheulichen NS-Verbrechen zeigt ein Bild, das Fiedler in ihrer Mappe hat. Zu sehen ist Adolf Hitler im Berghof, seinem Landhaus am Obersalzberg. Er sitzt in einem Sessel, im Hintergrund sieht man farbenfrohe Vorhänge - sie sind aus den Stoffen aus dem Hause Wallach gefertigt.

Für Paul Wallace sind die vergangenen Tage eine sehr intensive Reise in die Vergangenheit gewesen. Vor allem der Besuch des ehemaligen Dachauer Konzentrationslagers habe ihn große Überwindung gekostet, sagt er. Einerseits empfinde er "große Traurigkeit", wenn er über das Schicksal seiner Vorfahren nachdenke. Andererseits mache es ihn aber glücklich zu sehen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit all die Menschen, denen er in dieser Stadt bislang begegnet sei, sich für diese, seine Vergangenheit interessieren würden. Das, so sagt er, gebe ihm Hoffnung. Am Ende des Rundgangs bedankt er sich deshalb bei allen Anwesenden. An die Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums gerichtet sagt er, dass er nicht genau wisse, was all das für sie, als so junge Menschen bedeute, aber er selbst sei "sehr bewegt".

Geschichtslehrerin Hedi Bäumel indes ist überzeugt, dass ihre Schüler längst verstanden haben, dass "wir in Dachau eine besondere Verantwortung" haben. Das Interesse an diesem Thema sei, so sagt sie, schon immer groß gewesen an ihrer Schule - doch gerade in den letzten Jahren, sei das Interesse noch einmal größer geworden. Das bestätigt auch Sarah: "Ich finde das Thema sehr wichtig. Vor allem auch deshalb, weil es wieder in die rechte Richtung geht." Dass die 16-Jährige einen Stolperstein poliert, mag zwar rein symbolischen Charakter haben. Doch sie macht sich dabei Gedanken über die aktuelle politische Lage in diesem Land.

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