An den ersten Schultag kann sich Claudia Radwan bis heute erinnern. Sie stand in der Menge bei ihrer Tante, die große Schultüte in der Hand. Plötzlich rief die Lehrerin sie mit ihrem zweiten Namen, Agnes. "Da hab ich mich geweigert. Auf Agnes höre ich nicht", sagt Radwan. Im Sommer 1960 war das, am ersten Tag, an dem sie die Volksschule Ludwigsfeld gesehen hat. Bald kommt der letzte Tag, an dem Radwan und ihre alten Mitschüler aus Ludwigsfeld ihre Schule noch sehen können, denn die Schulgebäude sollen abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden.
Inzwischen ist die Rothwiesenstraße 18 ein sonderpädagogisches Förderzentrum, an dem etwa 170 Schüler mit dem Schwerpunkt Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung unterrichtet werden. "Wir haben zu wenig Kapazität und brauchen dringend mehr Räume", sagt Schulleiterin Claudia Gottfried. Der Neubau von Klassentrakt, Turnhalle und Mensa solle in etwa zwei Jahren beginnen und 2025 beendet sein. In zwei Bauabschnitten, sodass die Schüler ohne Umzug weiter am gleichen Ort unterrichtet werden können.
Als Claudia Radwan Schülerin der Volksschule war, lautete die Anschrift noch Dachauer Straße 526. Sie lief 15 Minuten durch Felder, in der Umgebung standen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Als sie in der zweiten Klasse war, wurde ihr Jahrgang für ein Schuljahr selbst in einer Steinbaracke unterrichtet. Damals in Ludwigsfeld nichts Ungewöhnliches, denn die Siedlung ist auf dem Gelände eines KZ-Außenlagers und späteren Auswandererlager entstanden. Hier lebten ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine, aus Russland und Jugoslawien neben Vertriebenen aus Oberschlesien Tür an Tür. "Wir waren Kinder. Uns war egal, wer Deutscher, wer Ausländer, wer Katholik oder andersgläubig war", sagt Radwan. Alle gingen in die Volksschule Ludwigsfeld. Allerdings aufgeteilt in eine "katholische Bekenntnisschule" und eine Gemeinschaftsschule für alle übrigen Religionen.
Lokalhistoriker Ewgenij Repnikov hat die Geschichte seiner alten Schule in den Archiven aufgespürt: "Die Schule wurde als eine der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut und hatte kurz darauf wohl den höchsten Anteil an Ausländerkindern einer Münchner Schule", sagt er. Viele Kinder mit Migrationshintergrund, das ist heute im Münchner Norden nichts Ungewöhnliches. Damals war es eine Ausnahme.
Die Pläne für das Schulgebäude und die Turnhalle aus den Fünfzigerjahren stammen von Bauhaus-Schüler Rudolf Ortner, der auch die Ost- und Westkurve des Grünwalder Stadions entworfen hat. Das alte Schulhaus hat nun ausgedient. Nur ein kunstvoll gestaltetes Fenster mit Märchenmotiven wird möglicherweise vor dem Abriss gerettet, sagt Repnikov.
Auch Igor Maga ging von 1959 an in die Volksschule Ludwigsfeld. Er erinnert sich an den früheren Hausmeister, Herrn Berger und dessen Frau. "Sie haben uns Semmeln und Kakao gemacht. Sehr liebe Leute", sagt Maga. "Wenn einer blau gemacht hat, dann ist Berger aufs Moped gestiegen und hat ihn von zuhause abgeholt." Nur die ganz alten Lehrer hat Maga schlecht in Erinnerung. "Einer hatte einen ganzen Schrank voll mit Rohrstöcken. Einmal sollte ich mir einen aussuchen. Ich dachte, der dünnste tut am wenigsten weh. Das war ein Fehler", erzählt er. "Die haben uns über eine Bank gelegt, die Hosen gespannt und dann gab es Prügel." Die jüngere Generation sei besser gewesen und habe sich für "die Ausländerkinder" engagiert. An die Schulzeit denkt er gern zurück, sagt Maga, ohne Sentimentalität allerdings. Anders als Radwan, die jetzt in Hamburg lebt: "Da ist man schon ein klein wenig wehmütig."