Lokalgeschichte:Pionier und Visionär

Wie Peter Paul Winkler den Moorboden urbar macht und aus einem einst lädierten Betrieb ein florierender Beerengarten entsteht. Die Familie Kauppe-Offenbeck feiert das 100-jährige Bestehen von Gut Rothschwaige

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Missernten, Tierkrankheiten, Brände, Krieg, Enteignungen und drohende Insolvenzen - "ich habe schon alles erlebt", sagt Gertrud Kauppe und schüttelt den Kopf. Fast ihr ganzes Leben hat die 95-Jährige auf dem Gut Rothschwaige verbracht. "Sie war die Seele des Betriebs", sagt Tochter Susanne Kauppe-Offenbeck. Kauppe kochte für Mitarbeiter und Familie, kümmerte sich um alle, zog fünf Töchter groß und bildete 40 Lehrlinge aus. "Ich hab sie alle in die Oper geschleift oder ins Theater", lacht sie. "Sie sollten etwas von der Nähe zu München haben." Heute gibt's keine Angestellten mehr auf dem Hof. Dennoch: Der Betrieb floriert.

Zwar mussten die Stammkunden heuer lange warten, bis sie endlich auf die Felder durften. Das Wetter hat eben seinen eigenen Zeitplan. Doch seit dieser Woche ist die Beerensaison eröffnet - es ist eine ganz besondere für die Familie Offenbeck. Sie feiert heuer 100 Jahre Gut Rothschwaige. Zu diesem Anlass dürfen Interessierte am Sonntag, 23. Juni, sowie Sonntag, 30. Juni, jeweils um 14 Uhr einen Blick hinter die Kulissen werfen. Die Offenbecks führen die Besucher dann durch den Hof. Außerdem haben sie extra zum Jubiläum eine kleine Chronik aufgelegt. "Es soll eine Würdigung der Vorgängerleistung sein", sagt Wolfgang Offenbeck. "Aber wir wollen auch, dass die Karlsfelder Kenntnis davon haben." Das Gut ist immerhin der traditionsreichste Karlsfelder Bauernhof.

Lokalgeschichte: Auf der ältesten Ansicht ist das Gut Rothschwaige kaum wiederzuerkennen. An allen Ecken und Enden wurde angebaut.

Auf der ältesten Ansicht ist das Gut Rothschwaige kaum wiederzuerkennen. An allen Ecken und Enden wurde angebaut.

(Foto: oh)

Seit drei Generationen bewirtschaftet die Familie ihn jetzt, die vierte steht bereits in den Startlöchern, hilft längst fleißig mit und bringt eigene Ideen ein. Anders als es früher bei Landwirten üblich war, übernahm nie der älteste Sohn das Gut, sondern bislang immer die jüngste Tochter mit ihrem jeweiligen Ehemann. "Eigentlich war ich ja der Falsche", erzählt Wolfgang Offenbeck augenzwinkernd. Seit 1987 leitet er zusammen mit seiner Frau Susanne den Hof. "Ich war Lehrer am Gymnasium für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, einer der wenigen, die damals eine Stelle bekommen hatten." Ganz leicht fiel ihm die Entscheidung nicht, Bauer zu werden, bereut hat er sie aber auch nicht: "Ich bin da jung und unbedarft hineingeschlittert, und meine Schwiegereltern waren relativ großzügig", lacht er. Gertrud Kauppe stöhnt auf: "Wir haben viele schlaflose Nächte gehabt", stellt sie klar. Besonders als dann schlechte Ernten folgten und die Preise in den Keller gingen. "Jede Generation hat ihre eigenen existenziellen Krisen gehabt", sagt Offenbeck.

Als Peter Paul Winkler 1919 den Hof kaufte, war der Betrieb heruntergewirtschaftet, die Böden moorig und wie es schien relativ nutzlos. Dennoch musste Winkler 400 000 Goldmark für die 120 Hektar hinblättern und sich über beide Ohren verschulden. Seit 1900 hatte der Hof zwölf mal die Besitzer gewechselt. Doch Winkler hatte eine Vision. Er wollte das Moor bewirtschaften - so wie in Norddeutschland. Zusammen mit benachbarten Landwirten gründete er eine Entwässerungsgenossenschaft und begann die Ackerflächen zu bestellen. "Er war ein Pionier", sagt Offenbeck anerkennend.

100 Jahre Gut Rothschwaige

Theresa, Susanne, Paul und Wolfgang Offenbeck kümmern sich intensiv um die Heidelbeeren.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Doch ganz so einfach wie Winkler es sich vorgestellt hatte, war es nicht: Die Pflanzen bekamen Flecken, die Ernte war oft schlecht, und das Vieh litt nach kurzer Zeit an Lecksucht. "In den zwanziger und dreißiger Jahren war es oft schwierig", erinnert sich Gertrud Kauppe noch heute. Sie war damals noch klein, aber eins hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt: "Einmal saßen wir schon auf gepackten Koffern." Irgendwie konnte die drohende Insolvenz doch abgewendet werden. Winkler war kein einfacher Bauer, er hatte studiert und war vor dem ersten Weltkrieg Chef des Amts für Landwirtschaft in Speyer. Er begann zu experimentieren und fand bald heraus, dass Pflanzen und Tieren Mangan fehlte. Eine Entdeckung, die ihm das Bundesverdienstkreuz einbrachte. Denn davon profitierte nicht nur sein Hof, sondern alle Landwirte in den südbayerischen Niedermoorgebieten, wie Dachauer-, Isar- und Erdinger Moos. Noch heute werden die Blätter von Pflanzen, die auf sehr kalkhaltigen Böden wachsen mit Mangansulfat besprüht, damit sie wachsen können.

Winkler machte aber noch eine andere bahnbrechende Entdeckung: 1936 brannte seine Scheune ab. Wie viele andere Bauern stand auch er zunächst im Verdacht, nachgeholfen zu haben. Deshalb suchte der Gutsherr intensiv nach Erklärungen. Ihm fiel auf, dass sich Heu, wenn es nicht ganz trocken ist, bei Luftabschluss allmählich bräunlich verfärbt und sobald Sauerstoff dazukommt, sofort zu brennen beginnt. Die starke Taubildung im Moos machte es jedoch schwierig, das Heu ganz trocken einzufahren und so installierte er die erste Lüftung in der Scheune. Diese Erkenntnis machte Winkler zu einem sehr gefragten Gutachter vor Gericht.

100 Jahre Gut Rothschwaige

Gertrud Kauppe erinnert sich an schwierige Zeiten.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die nächste Herausforderung wartete 1939 auf den Landwirt: Die Reichsbahn plante im Münchner Norden einen neuen Rangierbahnhof. Man schickte einen Mann, der den Boden vermessen sollte. "Das hat nichts zu bedeuten", erklärte dieser der verwunderten Familie. Doch dann wurde Winkler mit 21 anderen zu einem Gespräch ins Rathaus geladen. "Die Reichsbahn braucht Kies", hieß es. Alle sollten sofort die Enteignung unterschreiben, doch Winkler wehrte sich. Er war der Hauptbetroffene. Die, die unterschrieben hatten, bekamen einen geringen Betrag als Entschädigung. Winkler ging zunächst leer aus. "Die waren wahnsinnig unverschämt", ruft Gertrud Kauppe noch immer erzürnt. Der Streit füllt sechs Aktenordner. Doch das Ergebnis war ernüchternd: "Die 40 Hektar waren das Herzstück vom Hof", sagt Kauppe. Dort wo früher Gemüse angebaut wurde, stand plötzlich alles unter Wasser. Auch als die Bahn das Gelände 1953 nicht mehr brauchte, änderte sich wenig daran. Lange blieb es eine wüste Kieslandschaft, in der wild gecampt, Motorrad gefahren oder gebadet wurde. Besonders unangenehm fand die Familie und auch viele Karlsfelder, dass die Amerikaner mit Platzpatronen schossen und Schwimmpanzern im See den Ernstfall übten.

1946 musste Familie Winkler sogar das Haus verlassen. Die amerikanische Militärregierung verfügte, dass das Gut Rothschwaige eine so genannte Hachschara-Farm wurde. Zwei Jahre lang sollten dort junge jüdische Holocaustüberlebende für ein Leben in Israel landwirtschaftlich ausgebildet werden. Aus dem Gut Rothschwaige wurde das Kibbuz Nizanim. Ein Treuhänder verwaltete es. Gearbeitet wurde jedoch wenig, erinnert sich Gertrud Kauppe. "Die Felder sind verunkrautet. Und als die Holocaustüberlebenden 1948 abzogen, stand nur noch eine Kuh im Stall."

Die fünfziger Jahre

Familie Offenbeck feiert heuer 100 Jahre Gut Rothschwaige.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Ein Jahr später übergab Winkler ihr den Hof. "Es war ein harter Anfang", sagt sie. Ihr Mann, Rudolph Kauppe, war Betriebswirtschaftler und Gutachter, "nicht so der Praktiker, eher ein Rechner". Die beiden kauften eine schwarzbunte Milchviehherde und Hühner, außerdem begannen sie Zuckerrüben anzubauen. "Der macht mir den Hof kaputt", habe der Vater immer geklagt. Aber am Ende stellte sich die Entscheidung als gut heraus. Der Zuckerpreis war lange Zeit gut, da er von der EU reguliert war. Jetzt freilich ist die Beteiligung an der Zuckerindustrie eher Fluch als Segen, so Offenbeck. "Wir sind zum Anbau einer konstanten Menge verpflichtet, damit die Werke ausgelastet sind." Doch Südzucker sei nicht mehr wettbewerbsfähig auf dem internationalen Markt.

Ende der 1960er Jahre musste das Gut etwa sieben Hektar abgeben. München rüstete sich für die Olympischen Spiele. Nicht nur das Stadion wurde gebaut, sondern auch U-Bahnen und Straßen. Für die B 304 und B471 wurden Flächen benötigt. Familie Kauppe verlor einen Teil ihrer Viehweiden und verkaufte die Kühe. Dann fielen die Eierpreise ins Bodenlose, so dass 1971 auch die Hühner vom Hof verschwanden. Gertrud Kauppe begann einen parkähnlichen Garten anzulegen.

Niedrige Weltmarktpreise und hohe Produktionskosten machen auch der nächsten Generation zu schaffen. Ein zweites Standbein musste her und so wurde das Gut in einen Beerengarten umgewandelt. Auf 15 Hektar wachsen nun Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren und Heidelbeeren. "Die Kunden kommen von weit her - manche aus Starnberg, andere aus Ingolstadt", sagt Susanne Kauppe-Offenbeck. Regionalität ist den Menschen wichtig geworden. Sorgen macht ihr nur die Entwicklung der Robotertechnik. Zwar macht sie mühsame Handarbeit überflüssig, aber wenn sie sich ausbreitet, fallen die Preise, prophezeit Offenbeck. Aber das wird wohl erst das Problem der nächsten Generation. "Allmählich wird's spannend, wie es weitergeht", sagt das Paar mit Blick auf Sohn Paul und Tochter Theresa.

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