Der Krimi ist ein Genre für harte Kerle, für wortkarge Typen, die ordentlich austeilen können, denn wer tagtäglich mit Verbrechen zu tun hat, braucht eine raue Schale. So weit das Klischee. Surendra Sinha, deutscher Kommissar mit indischen Wurzeln ist aus ganz anderem, weicherem Holz geschnitzt. Er ist ein freundlicher, umgänglicher Kerl und so friedfertig, dass man schon manchmal Angst um ihn haben kann - etwa wenn ihn eine Rotte rassistischer Hohlköpfe wegen seiner dunkleren Hautfarbe als "Kanaken" anpflaumt und sich durch seine freundlich-sachliche Art eher provoziert als beschwichtigt fühlt. Sicherheitshalber hat sich die Dachauer Autorin Zellner bei ihrer schwäbischen Schreibkollegin Simone Dorra gleich noch den raubeinigen Kommissar Malte Jacobsen ausgeliehen, der schon dafür sorgt (wenn auch manchmal erst sträflich spät), dass der gute Surendra nur mit kleineren Blessuren durch seinen dritten Fall kommt.
Aber was heißt da "sein Fall"? Eigentlich ist Surendra Sinha nur auf Urlaub in der Schwäbischen Alb in Hechingen, wo Malte Jacobsen zuhause ist, mit bestem Postkartenblick auf die Burg Hohenzollern. Aber bekanntlich ist das Verbrechen immer da, wo der Ermittler sich gerade herumtreibt, und dieses eherne Gesetz jeder Kriminalreihe gilt in Ingrid Zellners Universum: Diesmal bekommt es Surendra Sinha gleich mit einer ganzen Mordserie zu tun. Bei einem touristischen Abstecher auf die Burg Hohenzollern begegnet Surendra einem kleinen stummen Mädchen namens Linnea. Sie spricht nicht mehr, seit sie mit ansehen musste, wie ihr Vater in den Flammen seiner Villa ums Leben kam. Der Brandstifter sitzt hinter Gittern, die Hauptbelastungszeugin wurde kurz nach dem Prozess grausam ermordet. Der Fall ist nicht aufgeklärt. Sinhas Interesse ist natürlich sofort geweckt, zumal er sich an den Namen des Mordopfers erinnert. Es ist ein alter Fall aus seiner Zeit aus Friedrichshafen - und offensichtlich gibt es auch eine Verbindung zu Linneas Mutter. Das kann ja wohl kein Zufall sein. Dass die weiteren Morde, trotz unterschiedlicher Tötungsmethoden, ein und demselben Täter zuzuschreiben sind, zeigt sich schnell an dem immer gleichen Beipackzettel zur Tat: "Gerächtigkeit" steht jedes Mal auf einem Zettel, der beim Mordopfer gefunden wird. Irgendjemand hat hier eine Rechnung offen, das ist klar, und obwohl die Ermittler fleißig ihre Erkenntnisse zusammentragen, finden sie die Antwort auf die Frage "Wer war's?" erst sehr spät. Die Spannung hält bis zum Schluss.
Man verrät sicher nicht zu viel, wenn man offenbart, dass Linnea eine wichtige Rolle in dem Fall spielen könnte - wäre sie nicht "stumm vor Angst". Surendra Sinha und seine kleine graue Katze Saleti schaffen es, das Mädchen nach und nach aus der Reserve zu locken. Aber natürlich hat jeder Held auch Gegenspieler, die ihm das Leben schwer machen. Dazu gehören neben widerwärtigen Rassisten auch großkotzige Kollegen oder auch seine fürsorgliche Mutter Zenobia, deren proaktive Rolle bei der Verheiratungen ihres Sohnes immer wieder für herrlich peinliche Momente sorgt.
Die Handlung führt den Leser geschickt durch ein Wechselbad der Emotionen: Szenen von blutigem Terror, stimmungsvolle Ausflügen zu den Sehenswürdigkeiten der Region, insbesondere dem Schönbergturm (im Volksmund auch Pfullinger Unterhose, "Onderhos" genannt), kriminalistisches Knobeln im Kollegenkreis, freundschaftliche Küchentischgespräche und liebenswürdig erzählte Alltagsszenen mit pointierten Dialogen. Hier kommt Zellners Erfahrung als professionelle Theaterdramaturgin zum Tragen. Nicht umsonst zählt "Stumm vor Angst" beim Silberburg-Verlag derzeit zu den Bestsellern.
Auch wenn man als Leser natürlich wissen will, wer hier warum reihenweise Leute umlegt: Seine Stärke zieht dieses dritte Buch der Reihe gar nicht so sehr aus dem eher konventionell gestrickten Kriminalfall, sondern aus der Frage, wie die Sympathieträger der Geschichte, insbesondere Surendra und die kleine Linnea, die Gefahren überstehen und ob die sympathische Schwedin Svenja und Surendra vielleicht am Ende nicht doch ein Paar werden. Leserinnen und Leser, die es emotional mögen und mit den Figuren richtig mitfiebern und mitleiden wollen, sind hier gut aufgehoben. "Stumm vor Angst" ist gefühlige Krimikost, bei der ein Kommissar dem anderen auch mal unter dem Tisch bestärkend die Hand drücken darf. Der Humor kommt ebenfalls nicht zu kurz; einmal lässt Zellner sogar den Nikolaus als Ordnungshüter auftreten, der den Bösewichten ordentlich die Leviten liest.
Getrübt wird der Lesespaß nur dadurch, dass so oft "gegluckst" und "geprustet" wird, als wäre man bei "Hanni und Nanni". Gerade eine erfolgreichen Autorin wie Ingrid Zellner hätte man von ihrem Verlag ein etwas gründlicheres Lektorat gewünscht. Fans der Reihe werden an solchen stilistischen Feinheiten aber ohnehin kaum Anstoß nehmen.
Ingrid Zellner: Stumm vor Angst. Schwäbische-Alb-Krimi. Der dritte Fall von Kriminalkommissar Surendra Sinha, Silberburg-Verlag 2020, 256 Seiten, 12,99 Euro.