KZ-Gedenkstätte:Geschichte und Erinnerung

ASF Freiwillige

Haben viel gelernt in ihrem gemeinsamen Freiwilligenjahr in Dachau: Kristina Eremita und Paul Canneva.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Ein Jahr lang haben Paul Canneva und Kristina Eremina an der KZ-Gedenkstätte freiwillige Arbeit geleistet. Dabei haben sie viel gelernt - auch über sich selbst

Von Emily Strunk

DachauGeschichte und Erinnerung. Für viele Menschen sind diese beiden Begriffe Synonyme. Nicht so für Paul Canneva. Der gebürtige Franzose hat sein Studium der Geschichte und Philosophie in Salzburg unterbrochen, um ein Jahr als Freiwilliger bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) hin Dachau zu arbeiten. "Ich interessiere mich sehr für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und habe mich auch in meinem Studium intensiv damit beschäftigt." Was daran fehlt, sei für ihn oft der praktische Bezug.

Auch Kristina Eremina wollte mehr als ein eindimensionales Studium der deutschen Sprache in ihrer Heimatstadt, auch sie entschied sich für ein Freiwilligenjahr in Dachau. In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, aufgewachsen, ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs seit jeher Teil ihres Lebens und ihres Bewusstseins, wie sie erzählt. "Ich bin aufgewachsen mit einem sehr ambivalenten Verhältnis zur Geschichte des zweiten Weltkriegs." Am vergangenen Sonntag wurden Canneva und Eremina nun nach einem Jahr in Dachau von der Gemeinde der Versöhnungskirche verabschiedet.

Als angehender Historiker beschäftigt sich Canneva leidenschaftlich mit der Geschichte. Die ist für ihn klar definiert und basiert auf belegten Daten und Fakten. "In der Geschichte gibt es keine moralischen Fragen." Erinnern hingegen sei etwas anderes und "gefärbt von Moral und Subjektivität", betont der 21-Jährige. Demzufolge gebe es auch in "der Erinnerungsarbeit immer moralische Fragen" und ein darin begründetes Fazit der Geschichte, erklärt Canneva. Er nennt als Beispiel das Vermächtnis der KZ-Überlebenden aus Dachau: "Nie wieder". Dies ist per Definition eben keine Geschichte, sondern die Erinnerung der Geschichte. Erst durch das Zusammenspiel beider Konzepte, könne das Abbild einer Zeit in der Vergangenheit vervollständigt werden, so Canneva. Die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in der Gedenkstätte in Dachau spiegele für ihn diese ganzheitliche und gemeinschaftliche Arbeit aus den Konzepten Geschichte und Erinnern.

Die 22-Jährige Kristina Eremina ist Urenkelin einer ethnischen Deutschen, die bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs vertrieben wurde, nach Deutschland floh und erst später nach Russland zurückkehren konnte. So wurden ihr in der Schule die Geschichte des Heldentums der Russen gelehrt, die im Krieg Europa vor den Deutschen erretteten, wohingegen sie von ihrer Urgroßmutter eine andere Perspektive dieser Zeit gespiegelt bekam. "Die Erinnerungsarbeit in Russland und Deutschland ist sehr unterschiedlich, ich habe mich dadurch immer wie in zwei Welten gefühlt", erzählt die gebürtige Russin.

In Russland spreche man nicht über die Geschichte der Konzentrationslager, da auch in der Sowjetunion zur selben Zeit ein Netz an Straf- und Arbeitslagern, in denen Zwangsarbeit betrieben wurde, sogenannten Gulags, zentraler Bestandteil der Innenpolitik gewesen sei. "Ich wollte eine Grenze finden zwischen dem, was richtig und dem, was falsch ist in der Erinnerungsarbeit und eine Antwort auf die Frage, wie man Erinnerungsarbeit anders umsetzen kann", beschreibt Eremina ihre Motivation vor Beginn des Freiwilligendienstes. "Ich wollte mich in die Geschichte der NS-Zeit aus einer anderen Perspektive vertiefen und herausfinden, was mein Bezug zur deutschen Kultur, zu meiner eigenen Geschichte ist."

Sich in Geschichten, Schicksale und Biografien zur Zeit des NS-Regimes zu vertiefen, sie zu recherchieren, das Wissen aufzuschreiben und weiterzugeben, bildet einen zentralen Aspekt in der Arbeit der Freiwilligen in Dachau. Canneva empfindet diesen als "wichtigsten Teil unserer Arbeit, als Teil der Erinnerung", welche ihm gleichzeitig manch glückseligen Moment im Archiv bescherte, wenn es ihm gelang ein fehlendes Puzzleteil einer Geschichte zu entdecken. "Das ist die absolute Freude des Historikers in mir. Es ist nicht immer toll und spannend im Archiv, aber wenn du die Antwort auf eine kleine Frage findest, hast du einen winzigen Teil zur Geschichte beigetragen. Das ist ein unfassbar tolles Gefühl", erzählt er.

Die Erinnerungsarbeit in der Versöhnungskirche ist für beide jungen Erwachsene von zentraler Bedeutung. Durch den Austausch und die Kommunikation mit Überlebenden könnten neue Perspektiven geschaffen und dem Einfluss der NS-Zeit auf das Heute, die Menschen und die Gesellschaft etwas entgegengesetzt werden, finden die beiden. Zudem teilen sie ihre Begeisterung für die deutsche Kultur, die Sprache und auch die Region Dachau, welche sie vom ersten Tag an sehr überrascht hat. "Ich war sehr überrascht über die Vielfältigkeit, die Natur, die Kultur, die Schönheit von Dachau. Vorher dachte ich, hier gäbe es nur das ehemalige KZ und einen immer schwarzen Himmel, der nur Regenwetter kennt", sagt Canneva und lacht.

Trotz coronabedingtem Einschränkungen ihrer Arbeit in den vergangenen Monaten, wie dem Wegfall eigener Führungen durch die Gedenkstätte oder der Betreuung Überlebender, sind die Freiwilligen froh, geblieben zu sein. "Ich habe niemals bedauert hiergeblieben zu sein. Ich will auch weiterhin mit Menschen arbeiten", sagt Eremina. Ähnlich empfindet das auch Canneva: "Für mich war es total logisch hier zu bleiben. Hier konnte ich arbeiten und helfen. Zu Hause in Frankreich hätte ich nichts zu tun gehabt."

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