KZ-Gedenkstätte:Eine präzise und schonungslose Zeitzeugin

Autorin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger gestorben; Autorin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger gestorben (schwarz-weiß)

Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger ist nach langer Krankheit im Alter von 88 Jahren in Kalifornien gestorben.

(Foto: Michael Reichel/dpa)

Die Versöhnungskirche würdigt die verstorbene Schriftstellerin und Shoah-Überlebende Ruth Klüger

In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober ist Ruth Klüger wenige Wochen vor ihrem 89. Geburtstag in Irvine, Kalifornien, verstorben. In einem Gottesdienst in der Evangelischen Versöhnungskirche am Sonntag würdigt Pfarrer Björn Mensing die international renommierte Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Zeitzeugin, deren Wege sich schon einige Male gekreuzt haben.

Ruth Klüger, geboren am 30. Oktober 1931 in einer jüdischen Familie in Wien, erlebte als Kind ab dem "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland 1938 Diskriminierung und Verfolgung. Mit elf Jahren begann ihr Weg durch die Konzentrationslager: Theresienstadt, Auschwitz, Christianstadt. Vater und Bruder wurden ermordet. Ihr gelang mit der Mutter 1945 die Flucht von einem Todesmarsch. Nach der Befreiung machte Ruth Klüger in Straubing das Notabitur und begann in Regensburg mit dem Studium. Sie wollte nach Israel, ging aber 1947 mit der Mutter in die USA, studierte, gründete eine Familie und wurde schließlich Professorin in Irvine und Göttingen.

1992 erschienen Ruth Klügers Jugenderinnerungen unter dem Titel "Weiter leben" - und wurden zum Bestseller. Es ist eine Sache, den Holocaust überlebt zu haben. Aber es ist eine andere, danach zu fragen, wie sich dieses Leben nach dem Überleben gestaltet hat und welche Spuren die Erfahrungen von Verfolgung und Todesbedrohung im Leben einer Überlebenden hinterlassen haben. 2012 kam der Dokumentarfilm "Das Weiterleben der Ruth Klüger" von Renata Schmidtkunz in die Kinos. Ruth Klüger lässt die Zuschauer auch in sehr intimen Situationen an ihrem Nachdenken teilnehmen: über ihre Kindheit im "judenkinderfeindlichen" Wien, ihre Eltern, ihre eigene Rolle als Mutter zweier amerikanischer Söhne, über ihr Frausein und den Umgang von Gedenkstätten mit der NS-Vergangenheit. Ihr Denken ist präzise und immer wieder schonungslos sich selbst und anderen gegenüber.

Zur Filmpräsentation im Oktober 2012 kam Ruth Klüger auf Einladung von Björn Mensing, Pfarrer und Historiker an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, erstmals zu einer öffentlichen Veranstaltung nach Dachau. Im Nachgespräch diskutierte Ruth Klüger im fast ausverkauften Kino Cinema mit dem überwiegend jugendlichen Publikum. Ruth Klüger, die sich in "Weiter leben" kritisch an einen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau in den Achtzigerjahren erinnert - "weil amerikanische Bekannte es wünschten" -, nahm sich vor acht Jahren mehr Zeit für den Ort. In der Widmung in "Unterwegs verloren", dem zweiten Band ihrer Erinnerungen, dankte sie Björn Mensing zum Abschied "für die Gastfreundschaft und den unvergesslichen Gang durch die Gedenkstätte", bei dem sie allerdings den Text am internationalen Mahnmal monierte, der nur die politisch Verfolgten würdigt.

Und Ruth Klüger kam wieder. Im Juni 2014 las sie im Gesprächsraum der Versöhnungskirche aus ihrem Gedichtband "Zerreißproben", ein Jahr später aus dem Manuskript ihres unvollendeten "Spieler-Romans". Sie fuhr selbst regelmäßig nach Las Vegas, um zu spielen. Das Glücksspiel war für sie eine Metapher für den Zufall, der auch ihr Leben und Überleben bestimmte. Die SZ schrieb über das Dachauer Werkstattgespräch mit der Autorin: "Das Publikum ist begeistert, Klüger schafft es, Menschen an diesem Ort zum Lachen zu bringen. Mit ihrer Lakonie, ihrer Lebensweisheit, ihrer Unverfrorenheit." Protagonistin Isha muss sterben. Warum? "Weil sie glaubt, sie beherrscht ihr Leben", sagt Klüger. "Und das wollte ich ihr zeigen, dass sie das nicht tut."

Ruth Klüger ließ in ihrem Dachauer Hotelzimmer zufällig ihr Halstuch liegen. Björn Mensing sollte es ihr aber nicht nachschicken, nur für sie verwahren. Sie würde wiederkommen. Und das klang dann auch in der Podiumsdiskussion nach ihrer großen Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2016 im Deutschen Bundestag in Berlin an, als sie auf die Frage nach ihrer Einschätzung der aktuellen Gedenkstättenarbeit antwortete: "Was in Dachau geleistet wird, finde ich beachtlich. Dort bin ich gelegentlich und habe großen Respekt vor Pfarrer Mensing."

Im Rahmen des Gottesdienstes am Sonntag, 18. Oktober, 11 Uhr, in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte wird Björn Mensing in tiefer Trauer und Dankbarkeit an Ruth Klüger erinnern. Besucher müssen sich nicht anmelden. Sie erreichen der Versöhnungskirche auch durch das Kloster Karmel, Alte Römerstraße 91, dessen Parkplatz sie benutzen können.

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