KZ-Gedenkstätte Dachau:Zurückgeholt in die Erinnerung

41.500 Menschen haben das KZ Dachau nicht überlebt. Mit einem Totenbuch entreißt die KZ-Gedenkstätte nun viele Opfer der Anonymität.

Helmut Zeller

Vier Schwarz-Weiß-Fotografien - mehr ist von den Brüdern Maurits und Izaak de Leeuw aus der Textilstadt Enschede nahe der niederländisch-deutschen Grenze nicht geblieben. Eine, vermutlich um 1922 aufgenommen, zeigt die beiden Buben an einem Tisch mit Bauklötzen. Da war Maurits schon vier und Izaak zwei Jahre alt. Zufällig fand John Löwenhardt aus Den Haag in einer Schachtel diese Fotografien entfernter Verwandter, die ihm völlig fremd waren.

KZ-Gedenkstätte Dachau: Das Gedenkbuch für die Toten des Konzentrationslagers Dachau entreißt die Opfer der Anonymität.

Das Gedenkbuch für die Toten des Konzentrationslagers Dachau entreißt die Opfer der Anonymität.

(Foto: Joergensen)

Niemand, der von ihnen hätte erzählen können, hatte das Morden überlebt. Die Erinnerung an die Brüder und ihre Eltern, den Metzger Abraham und seine Frau Zelma, war ausgelöscht. Noch heute, 66 Jahre nach Kriegsende, gehen in der KZ-Gedenkstätte Dachau jährlich 800 Anfragen nach Angehörigen ein, deren Lebensspur sich wie die von Maurits und Izaak de Leeuw im Dachauer Konzentrationslager und seinen 140 Außenlagern und -kommandos verloren hat.

Von den etwa 206 000 Menschen aus ganz Europa, die zwischen 1933 und 1945 in Dachauer Lagern inhaftiert waren, überlebten ungefähr 41500 nicht. Fast so viele, wie die Stadt Dachau heute Einwohner zählt. Den namenlosen Opfern ist das Denkmal "Der unbekannte Häftling" von Fritz Koelle am ehemaligen Krematorium gewidmet. Die Angehörigen haben kein Grab, an dem sie trauern können, wissen oft nicht, wie und wann ihre Großeltern, Eltern oder Geschwister starben.

Die Gedenkstätte hat jetzt 33205 Naziopfern ihre Namen zurückgegeben. Auch die Namen der jüdischen Familie de Leeuw sind in dem 1300 Seiten dicken Totenbuch. Sie war im Frühjahr 1944 über das Lager Westerbork nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz verschleppt worden.

Am 10. Oktober 1944, zwei Tage nachdem ihre Eltern dort vergast wurden, kamen die Söhne mit einem Transport ins Außenlager des KZ Dachau. Izaak starb am 22. Januar 1945 bei Landshut, Maurits am 8. Februar, an dem Tag, als er von Kaufering nach Dachau gebracht wurde. Da waren die Brüder 23 und 26 Jahre alt.

Die Besucher der Gedenkstätte können künftig Namen, Nationalität, Angaben zum Ort und Datum der Geburt, den Todestag und sogar den Beruf der Häftlinge an zwei Terminals im Gedenkraum abrufen. Darauf ist Archivar Albert Knoll, wie er sagt, "sehr stolz". Denn eine Berufsbezeichnung fehlt in den Totenbüchern anderer Gedenkstätten.

Für Forschungsprojekte und die pädagogische Vermittlung stellt die Arbeit eine wertvolle Quelle dar. Aus der gesichtslosen Masse der Opfer treten nun Menschen hervor. Leo Gladki etwa, ein polnischer Schuhmacher aus Berlin, der mit 25 Jahren am 30. Dezember 1942 im Stammlager starb. Oder der Landwirt Ivan Lizzul. Er hat seinen Bauernhof in Casali Sumberesi in Istrien, heute Kroatien, nie mehr gesehen, starb mit 39 Jahren. "Wir wollen die Würde der Verstorbenen bewahren und eine Konfrontation mit den Verbrechen aus individueller Perspektive ermöglichen", sagt die Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann.

Das jüngste Opfer war erst zwölf Jahre alt

Eine gewaltige Aufgabe. Albert Knoll und seine Mitarbeiter haben vier Jahre lang neben den eigenen mehr als 50 Quellen im In- und Ausland ausgewertet. Sie forschten in Standesämtern und Archiven, in geheimen, von Häftlingen verfassten Listen und erhaltenen Dokumenten der Lager-SS, schrieben Botschaften und Konsulate an. Am Anfang des langen Wegs stehen zwei Namen: Der Prager Historiker und Dachau-Überlebende Stanislav Zámecník, Verfasser des Grundlagenwerks "Das war Dachau", hatte die Idee schon in den 1990er Jahren.

Barbara Distel, Gedenkstättenleiterin bis 2008, startete dann das Projekt. In mehr als 30 Jahren Leitung hat Distel immer die ehemaligen Häftlinge in den Mittelpunkt der Gedenkstättenarbeit gestellt. Es gab frühere Veröffentlichungen zu den Todesopfern, aber sie listeten nur einzelne nationale Häftlingsgruppen auf. Jetzt endet die Liste mit dem 31. Juli 1945, enthält also auch Namen derjenigen, die an den Folgen der KZ-Haft starben. Einen Tag später hatten die amerikanischen Befreier ihre Lazarette in Dachau abgebaut.

Unter den nun namentlich bekannten Toten sind 11 474 Juden, ein Drittel der Opfer. Allein die Todesrate bei den 21300 ungarischen Juden, die 1944 und 1945 in Außenlager wie Kaufering/Landsberg oder Mühldorf deportiert wurden, lag bei über 80 Prozent. Ähnlich verhielt es sich bei den 4500 litauischen Juden. Hohe Todesraten weisen auch Häftlingsgruppen der etwa 40000 Polen oder der Tschechen im Stammlager auf. 20 Lebensläufe, ein Querschnitt durch alle Häftlingsgruppen, werden bei der Präsentation des Totenbuchs an diesem 29. April, dem 66. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau, in der Muttersprache der Opfer verlesen.

Ungefähr 8000 Tote bleiben unbekannt. Dazu gehören Opfer sogenannter Invalidentransporte nach Schloss Hartstein, ebenso viele Gefangene, die auf den Todesmärschen Ende April noch gestorben sind. Auch die Identität derer, die von den Außenlagern nach Birkenau zur Vergasung deportiert wurden, wird wohl nie geklärt werden können.

Auf dem Leitenberg in Dachau liegen die sterblichen Überreste tausender KZ-Häftlinge aus Dachau und Bayern. Bei einer Exhumierung in den 1950er Jahren konnten lediglich 82 Leichen identifiziert werden. Eine Hoffnung hat Knoll noch: Die Namen der etwa 4000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die 1941 und 1942 bei tagelangen Exekutionen in Hebertshausen erschossen wurden, könnten in russischen Archiven gefunden werden. Entsprechende deutsch-russische Forschungsprojekte sind angelaufen.

All die Zahlen des Todes, die Namen und Details, verschwammen manchmal vor den Augen des Archivars. Dann blieb sein Blick wieder an einem Namen haften, wie dem von Hanno Bogdan. Das zwölfjährige jüdische Kind aus Ungarn ist das jüngste Opfer im Buch der 33 205 Toten. "Wenn ich mich hineinversetzt habe", sagt Knoll, "bin ich sehr traurig geworden."

"Das Leben kann ihnen niemand zurückgeben. Aber sie sind in unsere Erinnerung zurückgeholt worden", schrieb John Löwenhardt über die Familie de Leeuw, nachdem er erfahren hatte, wo sie gestorben war. Löwenhardt schenkte dem Archivar die Fotografien von den Brüdern. Erstmals sah Albert Knoll die Gesichter zu den Namen von Maurits und Izaak.

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