Millionen Menschen haben während der zwölfjährigen Herrschaft der Nationalsozialisten unter Verfolgung gelitten, wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, gefoltert, ermordet. Das Leid vor allem einer Opfergruppe aber trat erst vergleichsweise spät in den Fokus von Forschung und Öffentlichkeit: das der Zeugen Jehovas. Erst 1993 erschien die bis heute wichtige Arbeit des Historikers Detlef Garbe, die den Titel „Zwischen Widerstand und Martyrium – die Zeugen Jehovas im Dritten Reich“ trägt.
In der KZ-Gedenkstätte Dachau wurde jetzt das Buch eines Mannes vorgestellt, den genau diese Thematik seit Jahren beschäftigt: die zweite, erweiterte Auflage eines Bandes, in dem sich der Autor Christoph Wilker mit Schicksalen zahlreicher sogenannter „Bibelforscher“ in der NS-Zeit und mit ihrer Einstellung gegenüber anderen Opfergruppen beschäftigt. „Die unbekannten Judenhelfer – wie Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus jüdischen Mitmenschen beistanden“ lautet der Titel von Wilkers Arbeit.
Gut 200 Besucher interessieren sich für Wilkers Arbeit
Bei der Buchvorstellung in der Gedenkstätte führte zunächst deren Leiterin Gabriele Hammermann in das Thema ein. Im Anschluss daran sprach Hammermann vor den gut 200 Besuchern der Veranstaltung mit dem Autor über dessen Motive für seine Forschungsarbeit und die wichtigsten Erkenntnisse, die er dabei gewonnen hat.
Christoph Wilker begleitet seit Jahren Forschungs- und Gedenkprojekte zur NS-Zeit, wobei der Schwerpunkt seiner Arbeit auf Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas lag und liegt. So bereitete er in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München eine Sonderausstellung zur Verfolgung der Zeugen Jehovas vor, die dort 2018/2019 zu sehen war. Darüber hinaus hat Wilker mehrere Bücher und Fachaufsätze zu dieser speziellen Thematik verfasst.
Rund 25 000 Mitglieder zählte die Glaubensgemeinschaft der „Bibelforscher“ im Jahr 1933 in Deutschland. Ein reichsweites Verbot der Mitgliedschaft erfolgte am 1. April 1935. Von der Glaubensgemeinschaft wurde dies mit groß angelegten Brief- und Flugblattaktionen beantwortet. Die Initiatoren wurden mit brutaler Härte verfolgt; es kam zu Todesurteilen und Hinrichtungen. Insgesamt wurden rund 2800 Personen in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert, etwa 1000 Mitglieder verloren bis 1945 ihr Leben.
Die Zeugen Jehovas weigerten sich, Kriegsdienst zu leisten
Was die Zeugen Jehovas trotz ihrer vergleichsweise geringen Anzahl in den Augen der NS-Machthaber so gefährlich machte, war deren Weigerung, Wehr- und Kriegsdienst zu leisten, die Hand zum sogenannten Hitlergruß zu heben, den Eid auf den „Führer“ zu leisten oder Mitglied in einer NS-Organisation zu werden. Ihre Haltung sei als „passiver, geistiger, nicht aber politischer Widerstand“ zu verstehen, sagt Hammermann mit Blick auf Wilkers Forschungsergebnisse.
Zentral sei bei dieser Haltung ein Aspekt gewesen, auf den Christoph Wilker in seiner Arbeit gezielt eingeht: Antisemitismus, sagt er, sei von den Zeugen Jehovas mit Verweis auf entsprechende Bibeltexte kategorisch abgelehnt und die Menschheit ohne Unterscheidung nach „Rassenkriterien“ als „Menschenfamilie mit gemeinsamem Ursprung“ verstanden worden. Diese Einstellung findet sich unmissverständlich auch in der Zeitschrift der Glaubensgemeinschaft, die damals den Titel „Trost“ – heute „Erwachen“ – trug. So wurde laut Wilker etwa in einer Ausgabe von 1938 explizit von den Folterungen in einem der NS-Lager berichtet – ohne Rücksicht auf das persönliche Risiko, das der Verfasser des Berichts bewusst einging.

Abschied nach 27 Jahren:Am Ende einer langen Reise in die deutsche Vergangenheit
Der Archivar der KZ-Gedenkstätte Dachau, Albert Knoll, hat den Toten des Konzentrationslagers ihre Namen zurückgegeben und als erster Historiker die Geschichte der homosexuellen Häftlinge erforscht. Jetzt geht er in Rente. Eine Würdigung.
Die Stärke von Wilkers Arbeit ist seine Fokussierung auf Einzelschicksale. Dabei wird immer wieder deutlich, mit welcher Unbedingtheit, welcher Charakterstärke offenbar die große Mehrzahl der aus Glaubensgründen verfolgten Menschen an ihrer Überzeugung festhielt. Wilker führt zahlreiche Beispiele hierfür an – etwa das des 18-jährigen Jonathan Stark, der selbst noch im Arbeitsdienstlager den Eid auf Adolf Hitler verweigerte und deshalb hingerichtet wurde.
Wilkers Blick geht dabei immer wieder auch dorthin, wo Zeugen Jehovas aus ihrer inneren Haltung heraus anderen Menschen – viele von ihnen Juden – trotz des hohen damit verbundenen Risikos geholfen haben. So wie beispielsweise das Ehepaar Stoltze in Berlin, das den jungen Juden Dagobert Lewin über mehrere Monate aufgenommen hatte, oder das der Krankenschwester Elisabeth Hädicke, die ebenfalls Juden versteckt hielt und deshalb ins Gefängnis kam. Aber auch viele Zeugnisse von ehemaligen KZ-Häftlingen hat Wilker aufgespürt, die später von Hilfe und menschlicher Zuwendung in den Lagern durch Zeugen Jehovas berichteten.
Immer wieder ergeben sich hierbei auch Bezüge zum Konzentrationslager Dachau, in dem Mitglieder der Glaubensgemeinschaft teils ermordet wurden, teils qualvolle Jahre verbrachten, am Ende aber überlebten. Zu Letzteren gehörte Helmut Knöller, der 1940 als 20-Jähriger wegen Wehrdienstverweigerung in das Dachauer Lager deportiert wurde und danach fast fünf Jahre lang in verschiedenen anderen Konzentrationslagern inhaftiert war.
Wilker hat Helmut Knöller noch persönlich kennengelernt. Dieser sei, sagte Wilker in Dachau, „eine beeindruckende Persönlichkeit“ gewesen und habe in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas in München in späteren Jahren bis zu seinem Tod 1988 eine wichtige Rolle gespielt.
Das Gespräch zwischen Gabriele Hammermann und Christoph Wilker endete mit einer eindringlichen Mahnung, die der Buchautor den vielen Zuhörern mit auf den Weg gab: Es gehe darum, im Anderen immer „den Menschen“ zu sehen und entsprechend zu handeln.