KZ-Gedenkstätte Dachau:Brückenbauer

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Mehrere Redner gedenken in der Versöhnungskirche der Opfer des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren und betonen zugleich, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Osteuropa für die Erinnerungskultur ist

Von Thomas Altvater, Dachau

Mit einer eindrucksvollen Konzertandacht hat die Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau am Sonntagabend an den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, erinnert. Damals verschleppten die Deutschen mehr als 25 000 Einwohner aus den besetzten sowjetischen Gebieten als Häftlinge ins KZ Dachau, zudem wurden 4000 gefangene Rotarmisten auf dem SS-Schießplatz in Hebertshausen ermordet. An sie gedachten der Pfarrer und Historiker Björn Mensing, Pastoralreferent Ludwig Schmidinger, Diakon Frank Schleicher, die frühere Freiwillige der "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste", Mayya Bakulina, sowie die Freiwillige an der Versöhnungskirche, Karla Steeb.

Mit Kantor Nikola David und Rabbiner Steven Langnas nahmen auch Vertreter der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom und der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern an der Andacht teil. "Das ist alles andere als selbstverständlich", hob Mensing die Bedeutung des Besuchs hervor. Der Kantor Nikola David untermalte die Andacht mit bewegend vorgetragenen Liedern auf Russisch, Jiddisch, Hebräisch und Deutsch.

In den Mittelpunkt des Gedenkens rückten die Teilnehmer der Andacht die Biografien von insgesamt fünf KZ-Häftlingen, die in den Folgejahren des Überfalls ins KZ Dachau deportiert worden waren: Mustakim Mustafewitsch Bajbulatow, Nikolaj Gawriilowitsch Gribanow, Wladimir Semenowitsch Poltawskij und Moisej Beniaminowitsch Temkin. Die ausführlichste Biografie eines sowjetischen Dachauer Häftlings verlas Mensing. Es ist die Geschichte von Uri Chanoch, der am 28. März 1928 in Kaunas, Litauen zur Welt kam, als Sohn alteingesessener jüdischer Bauern und Kaufleute. Im Alter von 13 Jahren erlebte Uri Chanoch den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und die damit verbundenen Gewaltexzesse von Litauern. "Es waren dort zumeist Christen, die gegen ihre jüdischen Landsleute vorgegangen sind, angestachelt von den deutschen Besatzern", erzählte Mensing.

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Die Wehrmachtssoldaten zwangen Chanochs Familie schließlich in ein extra errichtetes Ghetto umzuziehen. Die fünfköpfige Familie musste sich ein kleines Zimmer teilen und "hauste" dort, wie Mensing sagt. Uri habe sich trotzdem an ein harmonisches Familienleben erinnert, immerhin sei die Familie "zusammengewesen". 1944 räumten die Nazis das Ghetto und verschleppten Uri Chanoch in das KZ Stutthof, wo Mutter und Schwester ermordet wurden. Uri Chanoch selbst wurde in das Dachauer Außenlager Kaufering I bei Landsberg deportiert. Dort setzten die Nazis Chanoch zur Zwangsarbeit auf der Baustelle eines riesigen Rüstungsbunkers ein.

Jahrzehnte später, seit den 1990er Jahren kehrte Chanoch als Zeitzeuge mehrmals dorthin zurück, erinnert sich Mensing, der selbst bei einem solchen Besuch dabei war. "Uri erzählte, dass in der Betonwand des Bunkers einige seiner Mithäftlinge bei lebendigem Leib einbetoniert wurden." Chanoch überlebte. Gemeinsam mit seinem ebenfalls überlebenden Bruder ging er ins damals britisch verwaltete Palästina und kämpfte fortan für die Errichtung eines jüdischen Staats. Er starb schließlich am 1. September 2015 im Alter von 87 Jahren in Israel.

Als die Nationalsozialisten die Sowjetunion überfielen, gab es auch aus den deutschen Kirchen viel Zustimmung. Insbesondere der Pastoralreferent Ludwig Schmidinger erinnerte während der Andacht an die Rolle des kirchlichen Antikommunismus und Antisemitismus, die viele Christen für den Überfall anfällig gemacht hätten. "Wie viele Christen wollten nicht merken, wie sehr sich der Nationalsozialismus als Religionsersatz angeboten hatte?", fragt Schmidinger. Für ihn sei erschreckend gewesen, wie sehr die Kirche das Böse in anderen Menschen sah. Dann richtet er den Blick auf die Gegenwart. Es sei "alarmierend", so Schmidinger, wenn Richter und Staatsanwälte den aus Kriegsgebieten geflüchteten Menschen kein Kirchenasyl gewähren würden, so Schmidinger.

Der beeindruckendste Beitrag dieser Konzertandacht erklingt jedoch ganz zum Schluss, als die in Russland geborene und aufgewachsene Mayya Bakulina an das Mikrofon tritt. Auf ihrem Moskauer Gymnasium habe sie ihrem Empfinden nach zu wenig über den Zweiten Weltkrieg gelernt, erzählt sie. "Hauptsächlich wurde uns erklärt, dass die Sowjetunion den Faschismus alleine besiegt hat." Dadurch sei der genaue Beitrag der weiteren osteuropäischen Länder unerwähnt geblieben. "Und wir sprachen nicht über die stalinistischen Zwangs- und Arbeitslager", erklärt sie. 2010 kam Bakulina im Rahmen der Jugendbegegnung zum ersten Mal nach Dachau. Später engagierte sie sich im Rahmen der "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste".

In ihrer Rede präsentierte sie sich als junge Brückenbauerin: "Ich hoffe, dass Russland, die Ukraine, Belarus, Armenien und andere Länder des ehemaligen Ostblocks weiterhin mit Deutschland bei der Entwicklung der Erinnerungskultur zusammenarbeiten werden", sagte Bakulina. "Eine gute Zukunft kann man nur gestalten, wenn man sich der Vergangenheit bewusst ist", so Bakulina, "und dazu gehört die Fähigkeit, sich mit der Bürde des eigenen Landes in der Vergangenheit auseinanderzusetzen."

Anlässlich des Jahrestags des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion hat die Versöhnungskirche ein Gedenkvideo über Slowa Danischewska aus Belarus gedreht, die ins KZ Stutthof deportiert wurde, nach ihrer Befreiung in Dachau lebte und schließlich in Israel verstarb. Das Video ist auf dem Youtube-Kanal der Kirche zu sehen.

© SZ vom 22.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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