Kunst in Dachau:Wildwuchs auf dem siebten Kontinent

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In der KVD-Galerie zeigt der Berliner Künstler Bodo Rott phantastisch verschlungene Landschaften, die die Wahrnehmung des Betrachters herausfordern

Von Gregor Schiegl, Dachau

In der Werkreihe "Hortus Convulsus" ballen sich alltägliche Elemente zu einer multiperspektivischen Wildnis. (Foto: Toni Heigl)

Auf dem Panzer der Schildkröte steht ein Mädchen, in der einen Hand hält es die Zügel und in der anderen einen Plastikbeutel - falls mal unliebsame Hinterlassenschaften aufzuklauben sind. Der Kopf des Tiers ähnelt einem Seeungeheuer: Reihen messerscharfer Zähne blitzen in seinem Maul. Auch das stolze Mädchen entspricht nicht dem gängigen Bild eines Kinds: Die wuschelige Frisur türmt sich zu einer herrschaftlichen Corona, die von Glühbirnen geschmückt wird. Abgründig und gefährlich, aber auch gewitzt sind die Motive in Bodo Rotts Tuschebildern, die bevölkert sind von "Nichtkinderkindern".

Nichtkinderkinder, so nennt der Berliner Künstler die Helden seiner phantastischen Welt: Es sind kleine Entdecker, aber auch Träumer, und was hier Wirklichkeit ist und was Imagination, ist in seinen Arbeiten oft kaum auszumachen. Häufig hantieren die Nichtkinderkinder mit ulkigen Apparaturen, die frühneuzeitliche Erfindungen sein könnten - oder auch einfach nur originelles Spielzeug. Was der Meisterschüler von Johannes Grützke und Klaus Fußmann von diesem Donnerstag an in der kleinen Dachauer KVD-Galerie zeigt, ist ein poetisches Spiel mit Wahrnehmung und Wirklichkeit, die über unsere Alltagswelt hinausreicht. Folgerichtig heißt sie "Kontinent 7": künstlerisches Neuland, das faszinierend und bezaubernd ist, manchmal auch bedrohlich und verstörend - oder schlichtweg verwirrend.

In den Bildern des Berliner Künstlers entwickeln die Dinge ein Eigenleben, wie in der Grafik "Lichtblume" mit einem forschenden Kind. (Foto: Toni Heigl)

Die große Sensation dieser Ausstellung sind die großformatigen Ölgemälde. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie ein flimmerndes Mirakel. Dem Auge präsentiert sich eine Collage aus bunten Ornamenten, die vor- und hintereinander zu schweben scheinen, die sich zusammendrängen, die sich bewegen und drehen; die räumliche Tiefe, die der Betrachter wahrnimmt, ist bestürzend. Es bedarf einer näheren Begutachtung, um sich davon zu überzeugen, dass es sich wirklich nur um eine plane Leinwand handelt. Dann merkt man auch schnell, dass die Muster Gegenstände in einer holzschnittartigen Darstellung zeigen: technische Geräte, Blumen, Tiere, Menschen, Farbtuben und Fabelwesen aus den unterschiedlichsten und teils merkwürdigsten Perspektiven, die das Gezeigte bis zur Unkenntlichkeit verzerren, und doch fügt sich alles wie ein großes Puzzle zusammen. Oder fällt wieder auseinander, sobald, man den Standort wechselt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern vom Künstler intendiert. "Der Beobachter wird immer wieder neu verortet", sagt Rott.

Scherzhaft nennt er seine Wimmelbilder eine "plastische Tapete". Sie gehören zu seiner jüngsten Werkgruppe "Hortus Convulsus", was man mit "verzerrter", "verdrehter" oder gar "verrückter Garten" übersetzen könnte. Es ist ein ironischer Gegenentwurf zum "Hortus Conclusus" der christlichen Ikonografie. Wer jemals ein Kunstmuseum besucht hat, kennt die Bilder: Die Muttergottes in gartenähnlicher Landschaft, in der die Natur wohl geordnet, ästhetisch und praktisch optimiert ist. Auf "Kontinent 7" herrscht dagegen rauschhaftes Chaos, archaische Urtümlichkeit. "Mein Garten ist eine Wildnis - ein inneres Unterholz." Und ein wenig keck behauptet Rott: "Ich male nicht, ich betrete einen Ort. Dieser Ort ist die Gegenwart, und von dort ist es überall gleich weit hin." Der Zugang erfolgt für ihn nicht selten über Brücken, die weit in die Kunstgeschichte zurückreichen, in die Motiv- und Themenwelten von Mittelalter und Barock. Die reduzierte Darstellung erinnerte an Illustrationen gelehrter Bücher der vorwissenschaftlichen Zeit, gleichzeitig verleihen die schrägen Perspektiven ihnen eine sehr zeitgemäße Ästhetik, die der Optik von Graffiti und Comic nicht fern ist.

Künstler Bodo Rott. (Foto: Toni Heigl)

Der wichtigste historische Bezugspunkt für Bodo Rott dürfte allerdings die Renaissance sein und ganz besonders die Alchimie. Die Vorstellung, wie alles mit allem zusammenhängt, wie sich das eine aus dem anderen entwickelt und in etwas Neues transformiert, liefert Bodo Rott eine ideale Blaupause für seine Arbeit: "Die Materie der Farbe ist sozusagen meine Prima Materia, die ich in den Anschein von allem verwandeln kann, auch in den ihrer selbst."

In einer Monotypie verwischt der Künstler Muster und Striche ungleichmäßig. Die übrig gebliebenen hellen Stellen erinnern an den abplatzenden Putz alter Medici-Paläste. Je länger man Bodo Rotts Bilder betrachtet, desto stärker wird das Eigenleben, das sie entwickeln. Als würde man selbst Zeuge einer fortschreitenden wundersamen Verwandlung. Im Dickicht seiner verschlungenen Bilderwelten kann man sich genüsslich verlieren, wiederfinden und das Sehen neu entdecken als das, was es ist: eine wahre Sensation. Und man kann sich herrlich amüsieren über Tuschezeichnungen wie den "Frühstückskater", der unter den pikierten Blicken zweier sehr ernster Kinder auf den Tisch reihert.

Die neue Ausstellung ist die erste nach dem Lockdown in der KVD-Galerie, zu der es wieder eine Vernissage gibt. Sie findet an diesem Donnerstag, 9. Juli, um 19.30 Uhr vor dem Eingang der Galerie statt. Besichtigen kann man die Ausstellung in Kleingruppen mit Mundschutz.

Kontinent Sieben, Ausstellung von Bodo Rott, KVD-Galerie. Öffnungszeiten Donnerstag bis Samstag 16 bis 19 Uhr, Sonntag 12 bis 18 Uhr. Bis 2. August.

© SZ vom 09.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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