Was die Menschen vor mehr als 40 000 Jahren dazu bewog, Figuren von Tieren und Jägern an die Höhlenwände zu malen, darüber gibt es bis heute die unterschiedlichsten Theorien. War es ein magischer Ritus? Der Versuch, mit Geistern Kontakt aufzunehmen? Oder wollte man, wie die Graffiti-Sprayer heutiger Tage, einfach nur ein Zeichen setzen, dass man da war?
Denkbar wäre auch, dass man schon damals kahle Wände nicht besonders heimelig fand. So kam auch Nicole Junker zur Kunst. "Als Studentin war ich zu pleite, um selber Bilder zu kaufen", erzählt sie, und die Sachen von Ikea, die sich die Leute sonst daheim an die Wände hängen, hätten ihr nicht gefallen. Also fing sie an, selbst zu malen. Nichts Gegenständliches, "das können andere besser", findet sie. Abstrakte Kunst liegt ihr mehr.
Inzwischen ist die ehemalige BWL-Studentin aus Köln 51 Jahre alt, hat einen gutbezahlten Job bei einem bayerischen Automobilhersteller, einen Mann, zwei Söhne und zwei Katzen, seit 22 Jahren wohnt sie in Dachau. An den Wänden hängen aber hier immer noch ihre Bilder - und inzwischen sogar im Zimmer ihres 17-jährigen Sohnes. Wer die Abstoßungskräfte von Teenagern gegen alles Mütterliche kennt, weiß, was für ein Erfolg das ist.
"Ich lasse mich gern von den Jahreszeiten inspirieren"
Jetzt zeigt Nicole Junker zum ersten Mal ihre Werke in einer Einzelausstellung in Dachau unter dem Titel "Abstract Art". Drei Etagen im Wasserturm bespielt sie mit ihren Bildern. Von dem historischen Gemäuer ist sie begeistert. Wenn man von hier oben in den Schlossgarten schaut, sieht man die flamingofarbenen Blüten der Magnolien: "Ich lasse mich gern von den Jahreszeiten inspirieren", sagt Nicole Junker. Ihre Bilder tragen Titel wie "Colorful Vibes", "Pretty Pink", "Golden Eye" und "Blue or nothing", und wer ihre Bilder sieht, versteht auch sofort warum. Die Essenz sind leuchtende Farben. Sonnengelb, Ahornrot, Eisblau.
Zunächst hatte sie ein bisschen Sorge, dass der Umfang ihres Oeuvres nicht ganz reichen könnte, um alle Ausstellungsräume der drei Etagen zu bespielen, also hat sie noch ein paar Extraschichten eingelegt, um weitere Bilder zu malen. Da habe sie wenigstens ein paar Überstunden abbauen können, sagt sie fröhlich. Anzeichen von Lampenfieber angesichts ihrer ersten großen Ausstellung sucht man bei Junker vergeblich. "Für mich steht der Spaß im Vordergrund", sagt sie, neben dem Sport sei das Malen für sie "ein Mittel zur Entspannung vom Berufsalltag".
Sie malt expressiv, nicht nur mit dem Pinsel, es wird auch viel gespachtelt und gewischt, das sorgt für eine gewisse Dynamik in ihren Bildern, hier ist nichts glatt oder scharf gegeneinander abgegrenzt, alles fließt, vibriert, überlagert und durchdringt sich. Gemessen daran, dass Junker eine künstlerische Autodidaktin ist, arbeitet sie mit einer bemerkenswerten Vielfalt an Stilen und Techniken. Was ihr in Bildern anderer Künstler gefällt, adaptiert sie, aber immer mit ihrer ganz eigenen Note. "Ich will was ausprobieren und dabei was Neues lernen", sagt sie. Statt große Pläne zu schmieden, geht Nicole Junker in der Kunst lieber "kleine Schritte", wie sie sagt, und schaut mal, wohin sie das noch führen wird.
Goldfarben sorgen für edlen Glanz
Bisher hat das ja auch ganz gut funktioniert. In der Pandemie, als andere anfingen, Brot zu backen oder den Keller zu entrümpeln, intensivierte sie ihr Hobby und malte noch mehr. Am liebsten im Garten. Wenn die pastos, also dick, aufgetragene Acrylfarbe in der Sonne trocknet, "bröckelt es ein bisschen", es entstehen spannende Strukturen, kleine Risse, raue Oberflächen, Plastizität. Im August waren ihre Bilder schon einmal in Dachau ausgestellt in einer Ausstellung des Fitnessclubs "anima", aber da war sie nur eine unter 20 Künstlern. Jetzt hat sie die Bühne für sich allein und kann die ganze Breite ihres Schaffens zeigen.
In seiner kontemplativen Ruhe sticht das großformatige Gemälde "Magical" heraus. Es zeigt einen goldfarbenen Ball vor blauem Hintergrund, die Schlieren und Spritzer im goldenen Rund lassen an Protuberanzen, also Materieströme auf der Sonne, denken, ein kosmisches Motiv. Die fernöstliche Ästhetik kommt nicht von ungefähr, Junker hat einen Yoga-Trainerschein gemacht. Sie arbeitet generell gerne mit Goldfarben, Silber- und Bronzetönen; das sorge für eine edle Anmutung. Und sie schaue auch immer, was gerade so die "Trendfarben" seien, erzählt sie.
Man stelle sich vor, van Gogh hätte sein berühmtes Sonnenblumengemälde für eine Ecke in Doktor Gachets Küche gemalt, weil es so gut zu den gelben Gardinen passt oder Monet seinen "Seerosenteich", weil es so gut über dem Sofa ausschaut. Kann man nicht machen als Künstler, der etwas auf sich hält. Im etablierten Kunstbetrieb gilt das Wörtchen "dekorativ" daher als verpönt. Aber bei Nicole Junkers Bildern drängt sich dieses Attribut auf - ohne die abwertende Konnotation.
Kunst kann auch Wohnräume erschließen
Das liegt vor allem dran, dass ihre kreative Arbeit im Dreiländereck zwischen Kunst, Design und Innenarchitektur zu verorten ist. Sie begreift ihre Bilder "als Expansion oder Abrundung des Raums", überhaupt finde sie das Thema Interieur sehr spannend. Oft kommen Bekannte auf sie zu, die unter der Unwirtlichkeit einer leeren weißen Wand leiden. Junker ist die bewährte Exorzistin gegen diesen häuslichen "horror vacui", lateinisch für die Scheu vor der Leere.
Sie gestaltet die Bilder nach den bevorzugten Farben der Bewohner, und je nachdem, ob der Raum eher hell oder dunkel ist, setzt sie auf starke oder eher dezente Farben, und erzählt stolz, wie oft sie zu hören bekomme, wie "wahnsinnig toll" das aussehe. Kahle Wände sind für sie ein Ansporn und vielleicht sogar eine Quelle der Inspiration.
Auf ihrer Homepage zeigt sie ihre Bilder nicht nur als l'art pour l'art, sondern im Kontext von Wohnlandschaften. Ihre großformatigen Bilder sind Blickfang über Sitzgruppen und Sofas, korrespondieren mit dem, was man draußen vor dem Fenster sieht. Ein paar Kleinformate hat sie auch schon gemalt, jetzt wo platzsparende Tiny Houses voll im Trend sind. Bei Nicole Junker fusionieren Schöne Künste und Schöner Wohnen. Sie bringt anderen Lebensfreude in die Bude, etwas, woran sich Auge und Herz erfreuen können. Das allein ist schon große Kunst.
Nicole Junker: Abstract Art, Dachauer Wasserturm, Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag jeweils von 16 bis 21 Uhr. Zu sehen bis Sonntag, 23. April.